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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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sagte Cole und schob mit dem Fuß einen Ast zur Seite. Das einzige Holz in der Nähe der Grube waren ein paar halb zerfallene, verrottende Kiefern, die bei einem Sturm oder aus Altersschwäche umgestürzt waren, nichts, was uns weiterhalf. »Gibt’s vielleicht irgendwas im Haus?«
    »Eine Leiter«, erwiderte ich. Aber ich würde mindestens eine halbe Stunde brauchen, bis ich wieder hier wäre. Und ich glaubte nicht, dass ihr noch so viel Zeit blieb. Schon hier oben im Schatten der Bäume war es kalt, wie viel kälter war es dann erst unten im Wasser? Wie kalt musste es für eine Unterkühlung sein? Ich kroch zurück bis an den Rand der Grube und fühlte mich hilflos. Dasselbe Grauen, das mich ergriffen hatte, als ich Cole bei seinem Anfall sah, breitete sich langsam in mir aus wie Gift.
    Grace war jetzt zu meiner Seite der Grube herübergeschwommen und ich sah, wie sie versuchte, mit vor Erschöpfung bebenden Beinen irgendwo Halt zu finden. Es gelang ihr noch nicht einmal, sich auch nur ein paar Zentimeter aus dem Wasser zu hieven, bevor ihre Pfoten wieder an der Wand hinunterglitten. Ihr Kopf war ganz knapp über der Wasseroberfläche, ihre zitternden Ohren hingen schlaff herab. Alles an ihr wirkte entkräftet, frierend, resigniert.
    »Der macht’s nicht mehr so lange, bis wir die Leiter haben«, sagte Cole. »So viel Kraft hat er nicht mehr.«
    Mir wurde übel bei dem Gedanken daran, dass sie sterben könnte. Verzweifelt sagte ich: »Cole, das ist Grace.«
    Jetzt wandte er den Kopf und sah mich an; sein Gesichtsausdruck war kompliziert zu deuten.
    Unter uns sah nun die Wölfin zu mir auf und unsere Blicke verschmolzen für einen Moment miteinander. Ihrer braun, meiner gelb.
    »Grace«, sagte ich. »Nicht aufgeben.«
    Das schien ihr ein wenig Kraft zu geben: Sie fing wieder an zu schwimmen, dieses Mal zu einem anderen Teil der Wand. Es schmerzte mich, in dieser grimmigen Entschlossenheit Grace wiederzuerkennen. Noch einmal versuchte sie, sich nach oben zu ziehen, eine Schulter in den Schlamm gedrückt, während die andere Pfote ein paar Zentimeter über dem Wasser über die steile Wand kratzte. Ihre Hinterpfoten stemmten sich gegen irgendetwas unter der Wasseroberfläche. Mit zuckenden Muskeln schob sie sich nach oben, presste sich gegen die lehmige Wand, schloss ein Auge, um keinen Schlamm hineinzubekommen. Zitternd sah sie mich aus ihrem geöffneten Auge an. Es war so leicht, durch all den Schlamm hindurchzusehen, durch den Wolf, durch alles andere, nur in dieses Auge, direkt bis zu Grace.
    Dann gab die Wand nach. In einer Kaskade aus Matsch und Sand plumpste sie zurück ins Wasser. Ihr Kopf verschwand in der schlammigen Brühe.
    Einen unendlichen Augenblick lang lag das braune Wasser vollkommen still da.
    In diesen Sekunden, die sie brauchte, um sich zurück an die Oberfläche zu kämpfen, fasste ich einen Entschluss. Ich zog meine Jacke aus, stellte mich an den Rand der Grube, und bevor ich über die unzähligen Konsequenzen nachdenken konnte, sprang ich hinein.
    Ich hörte, wie Cole meinen Namen rief, zu spät.
    Halb rutschte, halb fiel ich ins Wasser. Mein Fuß berührte etwas Glitschiges, und bevor ich auch nur die Chance hatte zu bestimmen, ob es der Grund des Kraters war oder nur eine Wurzel unter Wasser, wurde ich verschluckt.
    Der Sand im Wasser brannte eine Sekunde lang in meinen Augen, bevor ich sie schloss. In dieser Schwärze verschwand für einen Moment jede Zeit, wurde zu einem völlig abstrakten Konzept, dann fanden meine Füße Halt und ich hob den Kopf über die Wasseroberfläche.
    »Sam Roth, du kleiner Scheißer«, stieß Cole hervor. In seiner Stimme lag Bewunderung, was bedeutete, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit eine ziemliche Dummheit begangen hatte.
    Das Wasser reichte mir bis zum Schlüsselbein. Es war schleimig wie Rotz und bitterbitterkalt. In dieser Grube war es, als hätte ich keine Haut. Als gäbe es nur meine Knochen und das eiskalte Wasser, das sie umspülte.
    Grace presste sich an die gegenüberliegende Wand, den Kopf in den Lehm gedrückt, offensichtlich hin- und hergerissen zwischen Misstrauen und irgendetwas anderem, das ihr Wolfsgesicht nicht ausdrücken konnte. Jetzt, da ich wusste, wie tief das Loch war, wurde mir klar, dass sie auf den Hinterbeinen stehen musste, an die Wand gelehnt, um ihre Kräfte zu schonen.
    »Grace«, sagte ich und beim Klang meiner Stimme verhärtete sich der Ausdruck in ihren Augen zu Angst. Ich versuchte, es nicht persönlich zu nehmen; es

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