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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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waren nutzlos in diesem Matsch, ständig sammelte sich so viel davon unter meinen Schuhsohlen, dass ich anhalten und ihn abklopfen musste, um überhaupt weiterzukommen. Als ich schließlich mein Ziel, den Schuppen, erreichte, war ich völlig außer Atem und meine Knie schmerzten vom Bergauf rennen. Aber zum Verschnaufen war keine Zeit. Ich hatte schon eine ungefähre Vorstellung, was ich aus dem Schuppen holen würde, es sei denn, mir kam spontan noch eine bessere Idee. Ich stieß die Tür auf und spähte hinein. All der Kram, den ich für so unglaublich praktisch gehalten hatte, wenn ich vorher mal hier gewesen war, kam mir jetzt unbrauchbar und abstrus vor. Plastiktonnen mit Kleidern. Kisten voller Essen. Wasserflaschen. Ein Fernseher. Decken.
    Ich riss die Deckel von den Kisten mit der Bezeichnung »Ausrüstung«, auf der Suche nach dem, was ich wirklich brauchte: irgendeine Art von Kabel oder Gummischnur, ein Seil oder meinetwegen auch eine Königspython. Irgendwas, was ich um eine der Tonnen binden und sie damit in so etwas wie einen Lastenaufzug verwandeln konnte. Aber da war nichts. Ich hätte in einem Werwolfkindergarten gelandet sein können. Nur Snacks und Sachen für den Mittagschlaf.
    Ich fluchte in den leeren Raum hinein.
    Vielleicht hätte ich die zusätzliche Zeit riskieren sollen, um zurück zum Haus zu laufen und die Leiter zu holen.
    Ich dachte an Sam, wie er zitternd dort in der Grube stand, Grace in den Armen.
    Plötzlich blitzte eine Erinnerung in mir auf: Victors kalter Körper am Boden einer Grube, Erde, die auf ihm landete. Das war nur ein Streich, den meine Gedanken mir spielten, und ein unwahrer noch dazu – Victor war in ein Laken gewickelt gewesen, als wir ihn begruben –, aber es war genug. Ich würde mit Sam nicht noch einen Wolf begraben. Und vor allem nicht Grace.
    Denn was ich langsam an dieser Sache mit Sam und Grace zu begreifen begann – warum Sam ohne sie offenbar nicht funktionierte –, war, dass diese Art von Liebe nur möglich war, wenn man sich sicher sein konnte, dass beide Menschen immer füreinander da waren. Wenn ein Teil der Gleichung ging oder starb oder in seiner Liebe nicht ganz so perfekt war, dann wurde das Ganze zur tragischsten, armseligsten Geschichte auf der Welt, lächerlich in ihrer Absurdität. Ohne Grace war Sam nur ein Witz ohne Pointe.
    Denk nach, Cole. Wie lautet die logische Antwort?
    Die Stimme meines Vaters.
    Ich schloss die Augen, versuchte mir die Wände der Grube vorzustellen, Grace, Sam, mich oben an der Kante. Einfach. Manchmal war die einfachste Lösung die beste.
    Ich schlug die Augen auf, schnappte mir zwei der Tonnen, stellte sie auf den Kopf, sodass sich ihr Inhalt über den Boden des Schuppens ergoss, und ließ alles zurück, außer einem Handtuch. Ich schob die Tonnen ineinander, warf das Handtuch hinein und klemmte mir die Deckel unter den Arm. Es schien, als wären die besten Waffen in meinem Leben immer die harmlosesten: leere Plastiktonnen, eine unbeschriebene CD, eine unmarkierte Spritze, mein Lächeln in einem dunklen Zimmer.
    Ich schlug die Schuppentür hinter mir zu.
GRACE
    Ich war tot und trieb in Wasser, das tiefer und breiter war als ich.
    Ich war
    blubbernder Atem
    Lehm in meinem Mund
    Sterne vor Augen
    ein Moment
    noch ein Moment
    und dann war ich
    Grace.
    Ich trieb dahin, tot, in Wasser, das kälter und mächtiger war als ich.
    Bleib wach.
    die Wärme seines Körpers zog an meiner Haut
    zerrte
    Bitte, wenn du mich verstehst
    mein Innerstes war nach außen gekehrt
    alles war gelb, Gold, auf meiner Haut verschmiert
    Bleib wach
    ich
    war
    wach
    ich
    war
COLE
    In der Grube war es unheimlich still, als ich wiederkam, und ich rechnete fast damit, sowohl Grace als auch Sam tot aufzufinden. Früher einmal hätte ich mir dieses Gefühl geschnappt und einen Song darüber geschrieben, aber diese Zeit war lange vorbei.
    Und tot waren sie auch nicht. Sam sah zu mir auf, als ich bis zum Rand der Grube vorkroch. Die Haare klebten ihm am Kopf, in der Art ungewollter Unordnung, die man normalerweise, ohne nachzudenken, mit einem Handgriff glättete, aber Sam hatte keine Hand frei. Seine Schultern bebten vor Kälte und er presste das Kinn auf die Brust, um das Zittern zu unterdrücken. Hätte ich nicht gewusst, was er da in den Armen hielt, wäre ich niemals darauf gekommen, dass diese kleine, dunkle Gestalt ein lebendiges Tier sein könnte.
    »Achtung!«, sagte ich.
    Sam sah genau in dem Moment auf, als ich die beiden Tonnen hinunterwarf.

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