In deinen Augen
war einfach ihr Wolfsinstinkt, der das Ruder übernahm, egal, wie viel Menschlichkeit ich zuvor in ihnen gesehen hatte. Trotzdem hieß das, dass ich meinen Plan, sie bis zum Rand der Grube hochzuheben, noch einmal überdenken musste. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren; ich fror so erbärmlich, dass meine Gänsehaut wehtat. Mein alter Instinkt schrie mich an, vor der Kälte zu fliehen, bevor ich mich verwandelte.
Es war so kalt.
Cole kauerte über mir am Rand der Grube. Ich konnte seine Unruhe spüren, seine unausgesprochene Frage hören, aber ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte.
Ich bewegte mich ein Stück auf sie zu, nur um zu sehen, wie sie reagierte. Sie ging in die Defensive, zuckte vor mir zurück, verlor den Halt unter den Füßen und verschwand unter Wasser. Diesmal war sie mehrere Atemzüge lang fort. Als sie wieder hochkam, versuchte sie erfolglos, ihren vorherigen Ruheplatz wieder einzunehmen, aber die Wand trug sie nicht mehr. Sie paddelte schwach, schnaufte knapp über dem Wasser. Uns blieb keine Zeit mehr.
»Soll ich auch runterkommen?«, fragte Cole.
Ich schüttelte den Kopf. Mir war so kalt, dass meine Worte mehr gehaucht als gesprochen klangen. »Zu – kalt. Du – verwandelst – dich.«
Neben mir fiepte der Wolf, leise und ängstlich.
Grace, dachte ich und schloss die Augen. Bitte erinnere dich daran, wer ich bin. Ich öffnete die Augen wieder.
Sie war fort. Nur eine langsame, dicke Welle breitete sich kreisförmig von dem Punkt aus, an dem sie untergegangen war.
Ich stürzte nach vorn und wühlte im Wasser, meine Schuhe sackten in den weichen Boden des Kraters. Qualvolle Sekunden vergingen, in denen ich nur Lehm an den Armen, Wurzeln unter den Fingerspitzen spürte. Das Loch, das mir von oben so klein vorgekommen war, schien nun unendlich weit und tief.
Alles, was ich denken konnte, war: Sie wird sterben, bevor ich sie finde. Sie wird sterben, nur Zentimeter von meinen Fingern entfernt dringt Wasser in ihre Nase, atmet sie Schlamm. Ich werde diesen Moment immer wieder durchleben, an jedem Tag meines Lebens.
Und dann, endlich, stießen meine Finger auf etwas Festes. Ich ertastete ihr nasses Fell und schlang die Arme um sie, um sie hochzuheben und ihren Kopf über Wasser zu halten.
Ich hätte mir keine Sorgen darum machen müssen, dass sie nach mir schnappen könnte. Sie lag vollkommen schlaff in meinen Armen, federleicht in dem Wasser, das ihr Gewicht mittrug, jämmerlich und gebrochen. Sie war ein Golem aus Zweigen und Schlamm, schon jetzt so kalt wie ein Leichnam von den vielen Stunden im Wasser. Braune Brühe blubberte aus ihrer Nase.
Meine Arme hörten einfach nicht auf zu zittern. Ich presste die Stirn an ihre schmutzige Wange und sie zuckte nicht zurück. Ich fühlte ihre Rippen an meiner Haut. Sie stieß ein weiteres ersticktes, dreckwassernasses Schnauben aus.
»Grace«, flüsterte ich. »So geht es nicht zu Ende.«
Ihr Atem ging feucht und rasselnd. Mein Kopf war ein Bündel aus Ideen und Plänen – wenn ich sie nur weiter hochheben könnte, wenn ich sie nur irgendwie wärmen könnte, wenn ich sie über Wasser halten könnte, bis sie wieder etwas zu Kräften kam, wenn Cole die Leiter holen könnte – aber es gelang mir nicht, mich auf irgendetwas davon zu konzentrieren. Bemüht, ihr Gesicht über dem flüssigen Matsch zu halten, bewegte ich mich langsam, tastete mit den Füßen nach was immer es auch gewesen war, worauf sie zuvor gestanden hatte.
Ich sah zum Rand des Lochs hinauf. Cole war verschwunden.
Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte.
Langsam ging ich weiter, bis ich eine rutschige, dicke Wurzel fand, die mein Gewicht trug, und ich stützte mich an der Wand ab, Grace’ Wolfskörper in den Armen. Ich drückte sie an mich, bis ich ihren fremdartigen, schnellen Herzschlag an meiner Brust spürte. Sie zitterte jetzt, ob vor Angst oder Erschöpfung, wusste ich nicht. Und genauso wenig wusste ich, wie ich uns hier rausbringen sollte.
Aber eins wusste ich: Ich würde nicht loslassen.
KAPITEL 23
COLE
Als Wolf zu laufen, war mühelos. Jeder Muskel war dafür gemacht. Alle Teile eines Wolfskörpers arbeiteten zusammen, die Bewegungen nahtlos, konstant, und der Geist eines Wolfs konnte die Vorstellung, irgendwann in der Zukunft erschöpft zu sein, nicht einmal erfassen. Darum hieß es laufen, als gäbe es keinen Grund, je wieder langsamer zu werden, oder: stehen bleiben.
Als Mensch hingegen fühlte ich mich unbeholfen und langsam. Meine Füße
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