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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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ölig aussehendes Organ. Am anderen Ende der Innereien, ein paar Zentimeter weiter, zuckte und strampelte ein Star, erst auf der Brust liegend und dann auf der Seite, durch seine eigenen Eingeweide an Shelbys Bleistift gefesselt.
    »Das machen wir mit ihnen, wenn wir sie fressen«, sagte Shelby. Ich erinnerte mich, wie ich einfach dort stand und irgendeine Spur von Gefühl in ihrer Stimme auszumachen versuchte. Mit einem zweiten Bleistift, den sie in der anderen Hand hielt, deutete sie auf die zerfleischte Brusthöhle des Vogels. Ich wusste noch, dass es einer von meinen Bleistiften gewesen war, aus meinem Zimmer. Mit Batman drauf. Frisch angespitzt. Die Vorstellung, dass sie in meinem Zimmer gewesen war, kam mir wirklicher und entsetzlicher vor als das gequälte Tier, das dort am Rand der Einfahrt lag und mit den Füßchen Staub aufwirbelte.
    »Hast du das gemacht?«, fragte ich. Ich wusste, dass es so war.
    Als hätte ich gar nichts gesagt, fuhr Shelby fort. »Hier, da drin ist sein Gehirn. Kleiner als eine Erdnuss.«
    Sie deutete auf das Auge des Stars. Ich konnte sehen, dass die Spitze des Bleistifts direkt auf der glänzenden schwarzen Oberfläche ruhte, und irgendetwas in mir zog sich zusammen, wappnete sich. Der Star lag vollkommen still. Man konnte seinen Puls in seinen entblößten Eingeweiden sehen.
    »Nein –«, sagte ich.
    Shelby stach meinen Batman-Bleistift in das Auge des Stars. Sie lächelte, ein versonnenes Lächeln, das nichts mit Freude zu tun hatte. Ihr Blick wanderte in meine Richtung, ohne dass sie den Kopf bewegte.
    Ich stand da und mein Herz raste, als wäre ich derjenige, den sie folterte. Mein Atem kam in unregelmäßigen, fiebrigen Stößen. Als ich Shelby und den Star betrachtete, schwarz und weiß und rot, fiel es mir schwer, mich zu erinnern, wie sich Glücklichsein anfühlte.
    Ich hatte es Beck nie erzählt.
    Die Scham machte mich zum Gefangenen. Ich hatte sie nicht aufgehalten. Es war mein Bleistift gewesen. Und wie zur Strafe vergaß ich dieses Bild niemals. Ich trug es immer mit mir und es war tausendmal schwerer als der Leichnam des kleinen Vogels.
     
    Bloß welches derbe Tier, ist reif die Zeit erst, Schlurft bethlehemwärts, um zur Welt zu kommen?
     
    Ich wünschte, Shelby wäre tot. Ich wünschte, dieser Geruch, dem Cole und ich folgten, wäre nur ein Phantom, ein Relikt anstelle eines Versprechens. Früher einmal hätte es mir gereicht, wenn sie einfach den Wald verlassen und sich ein neues Rudel gesucht hätte, aber dieser Sam war ich nicht mehr. Jetzt hoffte ich, dass sie irgendwo war, von wo sie niemals zurückkehren konnte.
    Doch ihr Geruch, der über dem feuchten Unterholz schwebte, war einfach zu stark. Sie war am Leben. Und sie war hier gewesen. Noch vor Kurzem.
    »Cole«, sagte ich.
    Er blieb abrupt stehen, irgendetwas in meiner Stimme hatte ihn gewarnt. Einen Moment lang war nichts da. Nur der dumpfe, lebendige Geruch des Waldes, der langsam erwachte, als es wärmer wurde. Vögel, die einander von Baum zu Baum etwas zuriefen. Weit weg, irgendwo außerhalb des Walds, Hundegebell, das beinahe wie Jodeln klang. Und dann – ein ferner, schwacher, ängstlicher Laut. Wenn wir nicht stehen geblieben wären, hätten unsere Schritte ihn übertönt. Jetzt aber hörte ich es deutlich, das Fiepen und Winseln eines Wolfs in Not.
    »Eine von deinen Fallen?«, fragte ich Cole gedämpft.
    Er schüttelte den Kopf.
    Wieder das Geräusch. Eine böse Ahnung regte sich in meinem Magen. Das klang nicht nach Shelby.
    Ich hob den Finger an die Lippen und Cole ruckte mit dem Kinn, als Zeichen, dass er verstanden hatte. Wenn dort wirklich irgendwo ein verletztes Tier lag, wollte ich es nicht verscheuchen, bevor wir ihm helfen konnten.
    Plötzlich waren wir selbst Wölfe – in Menschengestalt, lautlos und wachsam. Wie damals auf der Jagd waren meine Schritte lang und meine Füße verließen kaum den Waldboden. Diese Anschleichtechnik war nichts, woran ich mich bewusst erinnern musste. Ich brauchte bloß meine Menschlichkeit abzulegen und da war sie, direkt unter der Oberfläche, wo sie darauf gewartet hatte, dass ich sie zurückholte.
    Der Boden unter meinen Füßen war glatt und schlüpfrig vor nassem Lehm und Sand. Als ich in eine flache Senke hinabstieg, die Arme ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, rutschten meine Schuhe immer wieder ab und hinterließen unförmige Abdrücke im Matsch. Ich blieb stehen. Lauschte. Hörte Cole leise zischen, als er hinter mir ins Straucheln

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