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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Er zuckte zusammen, als das Wasser in einer Fontäne nach oben schoss. Kalte Tropfen prasselten auf meine Haut. Ich spürte, wie sich bei diesem Gefühl der Wolf in mir regte und dann beinahe sofort wieder zur Ruhe legte. Eine kribbelnde Warnung, dass ich mich irgendwann wieder verwandeln würde, und zwar nicht, weil ich mir eine Spritze verabreicht oder sonst irgendwie an mir rumexperimentiert hatte. Irgendwann würde ich mich verwandeln, weil ich nicht anders konnte.
    »C-Cole?«, fragte Sam. Er klang verwirrt.
    »Stell dich auf die Tonnen. Eine reicht vielleicht schon. Wie schwer ist sie?«
    »G-gar nicht.«
    »Dann kannst du sie zu mir hochheben.« Ich wartete, während er sich steif durch das Wasser auf die Tonne zubewegte, die ihm am nächsten war. Sie trieb wippend auf der Wasseroberfläche; er würde sie unter Wasser drücken und umdrehen müssen, damit er darauf stehen konnte. Er versuchte, sich vorzubeugen und sie am Rand zu packen, während er Grace festhielt; ihr Kopf rutschte schlapp und reaktionslos von seiner Brust. Ich begriff, dass er nichts mit der Tonne anfangen konnte, ohne Grace loszulassen, und Grace loszulassen hieße, sie ertrinken zu lassen.
    Sam starrte nur auf die im Wasser treibende Tonne, seine Arme zitterten unter Grace’ Körper. Er stand bloß da, absolut reglos, den Kopf leicht schräg gelegt, als betrachtete er das Wasser oder irgendetwas knapp dahinter. Seine Schultern deuteten beide steil nach unten. Victor hatte mich gelehrt, was das bedeutete. Um eine Kapitulation zu erkennen, bedurfte es keiner Worte.
    Es gibt Zeiten, in denen man bloß dasitzt und andere ihr Solo spielen lässt, und dann gibt es Zeiten, in denen man aufsteht und selbst Kontrolle über die Musik übernimmt. Die Wahrheit ist, dass ich im Stillsitzen nie besonders gut war.
    Ich sagte abermals: »Achtung!«, und ließ mich, ohne Sam eine Chance zum Reagieren zu geben, in das Loch hinuntergleiten. Schwindel erfasste mich, solange mein Körper nicht sicher war, wie weit er noch fallen würde und wann er sich für den Aufprall wappnen musste, und dann streifte mein Arm die Seitenwand, bevor ich in den flüssigen Schlamm eintauchte. »Verdammte Scheiße« , keuchte ich, denn das Wasser war kalt, kalt, kalt.
    Sams Gesicht wirkte unsicher unter seiner Dreckschicht, aber schließlich begriff er, was ich vorhatte. »B-beeil dich.«
    »Super Idee«, entgegnete ich. Aber Sam hatte recht – das kalte Wasser riss und zerrte an mir, krallte seine Finger in mein Fleisch, stocherte nach dem Wolf in mir. Ich drehte die erste Tonne so, dass das Wasser hineinlief und sie mit seinem Gewicht unter die Oberfläche zog. In dem trüben Wasser tastend, während ich versuchte, meinen krampfenden Magen ruhig zu halten, stellte ich die Tonne auf den Kopf und drückte sie in den Schlamm auf dem Grund der Grube. Dann griff ich nach der zweiten, ließ sie sich mit Wasser füllen und hievte sie, richtig herum und etwas versetzt, auf die erste. Schnappte mir den umhertreibenden Deckel und presste ihn darauf.
    »H-halt fest«, sagte Sam. »Ich n-nehm sie und …«
    Er beendete den Satz nicht, aber das musste er auch nicht. Er griff Grace fester und stieg dann auf die erste Tonne. Ich streckte die freie Hand aus, um ihm Halt zu geben. Seine Haut hatte genau dieselbe Temperatur wie der Schlamm. Grace in seinen Armen sah aus wie ein toter Hund, während er auf die zweite Tonne stieg. Der Turm wackelte bedenklich; ich war das Einzige, was ihn davon abhielt, unter Sams Gewicht zusammenzubrechen.
    »Schnell«, zischte ich. Verdammt, war das Wasser kalt; daran konnte ich mich nicht gewöhnen. Ich würde mich jeden Moment in einen Wolf verwandeln, nein, würde ich nicht, nicht jetzt – ich umklammerte die Ränder der Tonnen. Sam stand mit Grace auf der oberen und seine Schultern waren auf gleicher Höhe mit dem Rand der Grube. Nur für eine Sekunde schloss er die Augen. Dann flüsterte er: »Tut mir leid«, und schleuderte den Körper des Wolfs nach oben, raus aus der Grube, auf trockenen Boden. Es war nur ein Meter, anderthalb, aber ich konnte sehen, wie sehr es ihn schmerzte. Er wandte sich zu mir um, immer noch bibbernd vor Kälte.
    Ich war dem Wolf in mir so nahe, dass ich ihn auf der Zunge schmecken konnte.
    »Du gehst als Erster«, sagte Sam mit zusammengebissenen Zähnen, um seine Stimme besser unter Kontrolle zu halten. »Ich will nicht, dass du dich verwandelst.«
    Ich war nicht derjenige, der hier wirklich zählte, nicht derjenige, der

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