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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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geriet. Wieder hörte ich den Wolf winseln. Die Verzweiflung darin zupfte an etwas tief in meinem Inneren. Ich schlich mich näher an.
    Mein Herz wummerte laut in meinen Ohren.
    Je näher ich kam, desto falscher fühlte es sich an. Ich konnte das Fiepen des Wolfs hören, aber auch das Plätschern von Wasser, und das ergab keinen Sinn. In dieser Senke gab es keinen Fluss und vom See waren wir weit entfernt. Und trotzdem dieses Plätschern.
    Über uns zwitscherte ein Vogel, laut, und eine Windbö fuhr durch die Blätter ringsum, ließ ihre blassen Unterseiten aufschimmern. Cole blickte mich an und doch auch wieder nicht, lauschte. Sein Haar war länger als damals, als wir uns kennengelernt hatten, seine Gesichtsfarbe gesünder. Aus irgendeinem Grund wirkte er, als gehörte er hierher, wie er so wachsam und angespannt den Wald durchstreifte. Der Wind brachte uns jetzt Blütenblätter, obwohl kein blühender Baum zu sehen war. Es war ein ganz normaler, herrlicher Frühlingstag hier im Wald, aber mein Atem kam in unregelmäßigen Stößen und alles, was ich denken konnte, war: An diesen Moment werde ich mich für den Rest meines Lebens erinnern.
    Mit einem Mal, klar und deutlich, ergriff mich das Gefühl zu ertrinken. In Wasser, das kalt und schlammig über meinem Kopf, meinem Haar, zusammenschlug, in Wasser, das in meiner Nase brannte, das meine Lungen fest umklammerte.
    Es war das Fragment einer Erinnerung, die nichts mit mir zu tun hatte. So wie Wölfe kommunizierten.
    Und plötzlich wusste ich, wo der Wolf war. Ich gab meine Verstohlenheit auf und stolperte die letzten Meter hastig voran.
    »Sam!«, keuchte Cole.
    Gerade noch rechtzeitig blieb ich stehen. Der Boden unter meinem rechten Fuß sackte ab und landete mit einem Klatschen irgendwo ein Stück tiefer. Ich wich zurück auf sichereren Grund und spähte dann nach unten.
    Ich sah schockierend gelben Lehm, ein unwirklicher Farbtupfer unter den dunklen Blättern. Es war eine Art Krater, ganz frisch entstanden, den nackten Baumwurzeln ringsum nach zu schließen, die gekrümmt wie Hexenfinger aus den glitschigen Seitenwänden ragten. Der Rand der Grube war unregelmäßig und an mehreren Stellen eingebrochen; der heftige Regen musste zu viel für die Decke eines unterirdischen Hohlraums gewesen sein. Das so entstandene Loch war zwei, drei oder auch fünf Meter tief, schwer zu sagen. Auf dem Grund befand sich Wasser oder Schlamm von gelblich oranger Farbe, dick genug, um an den Wänden kleben zu bleiben, dünn genug, um darin zu ertrinken.
    Im Wasser war ein Wolf, sein Fell nass und schlammverklebt. Er wimmerte nicht mehr, sondern trieb einfach nur im Wasser. Er strampelte noch nicht einmal. Sein Fell war zu schmutzig, als dass ich ihn hätte erkennen können.
    »Lebst du noch?«, flüsterte ich.
    Beim Klang meiner Stimme fingen die Beine des Wolfs an zu zucken und er hob den Kopf, um mich anzusehen.
    Grace.
    Ich war ein Radio, auf dem alle Sender gleichzeitig eingestellt waren, so viele Gedanken, dass kein einziger klar zu mir durchdrang.
    Jetzt sah ich die Spuren ihrer Anstrengungen: Krallenabdrücke im weichen Lehm kurz über der Wasserlinie, ganze Klumpen von Erde, die aus den Wänden der Grube gekratzt worden waren, eine glatte Rutschspur, entstanden durch einen Körper, der immer wieder zurück ins Wasser geglitten war. Sie war schon eine ganze Weile hier, und als sie mich ansah, erkannte ich, dass sie keine Kraft mehr hatte weiterzukämpfen. Ich sah auch, wie wissend, besonnen, klug ihr Blick war. Ohne das kalte Wasser, das ihren Körper in seiner Wolfsgestalt hielt, wäre sie wahrscheinlich ein Mensch gewesen.
    Das machte es unendlich viel schlimmer.
    Cole neben mir sog scharf die Luft ein, bevor er etwas sagte. »Gibt’s irgendwas, wo er draufklettern kann? Irgendwas, damit er wenigstens –«
    Er führte seinen Satz nicht zu Ende, weil ich bereits am Rand der Grube nach etwas suchte, das uns helfen konnte. Aber was konnte ich schon tun, solange Grace ein Wolf war? Das Wasser lag fast zwei Meter unter mir, und selbst wenn ich irgendetwas fand, das lang genug war, um bis auf den Boden des Kraters zu reichen – vielleicht gab es im Schuppen etwas Brauchbares –, müsste sie schon darauf nach oben laufen können, denn klettern konnte sie nicht. Und würde ich sie überhaupt dazu kriegen? Wenn sie wenigstens ihre Hände gehabt hätte, ihre Finger, dann wäre das hier immer noch nicht einfach gewesen, aber zumindest nicht unmöglich.
    »Das bringt alles nichts«,

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