In deinen Augen
wie er sich über mich beugte. Sein Atem, warm und ruhig, traf auf meine Wange. Zwei Atemzüge. Drei. Vier. Ich wusste nicht, was ich wollte. Dann hörte ich ihn nicht mehr atmen und eine Sekunde später fühlte ich seine Lippen auf meinen.
Es war kein Kuss, wie ich ihn zuvor mit ihm erlebt hatte, hungrig, voller Verlangen, voller Verzweiflung. Es war kein Kuss, wie ich ihn je mit irgendjemandem erlebt hatte. Dieser Kuss hier war so sanft, dass er mehr wie die Erinnerung an einen Kuss war, so behutsam, als striche jemand mit den Fingern über meine Lippen. Mein Mund öffnete sich und hielt dann inne; der Kuss war so leise – ein Flüstern, kein Schrei. Coles Hand lag an meinem Hals, sein Daumen presste sich in die Haut unter meinem Kiefer. Es war keine Berührung, die besagte: Ich will mehr. Sondern eine Berührung, die besagte: Ich will genau das.
Das alles ging vollkommen lautlos vonstatten. Es schien, als würde keiner von uns beiden atmen.
Dann setzte Cole sich langsam wieder auf und ich öffnete die Augen. Sein Gesicht war ausdruckslos, wie immer, wenn es wichtig wurde. Er sagte: »So würde ich dich küssen, wenn ich dich lieben würde.«
Er stand auf – plötzlich sah er nicht mehr wie ein Star aus – und hob seinen Autoschlüssel, der ihm aus der Tasche gerutscht war, vom Bett auf. Er sah mich nicht an, als er ging und die Tür hinter sich schloss.
Es war so still im Haus, dass ich seine Schritte auf der Treppe hören konnte, die ersten fünf oder so langsam und zögerlich, der Rest hastig.
Ich berührte meinen Hals, dort, wo Coles Daumen gelegen hatte, und schloss wieder die Augen. Das hier fühlte sich weder wie kämpfen noch wie aufgeben an. Mir war nicht klar gewesen, dass es auch noch eine dritte Möglichkeit gab, und selbst wenn ich es gewusst hätte, wäre ich nie darauf gekommen, dass ausgerechnet Cole mich darauf bringen könnte.
Ich stieß den Atem aus; lang und zischend strich er über meine Lippen, die gerade noch geküsst worden waren. Dann richtete ich mich auf und zückte meine Kreditkarte.
KAPITEL 35
SAM
Am nächsten Morgen war mir nicht danach, zur Arbeit zu fahren, immerhin ging um mich herum gerade die Welt unter, aber mir fiel keine plausible Ausrede für Karyn ein, also machte ich mich wohl oder übel auf den Weg nach Mercy Falls. Da ich jedoch die Geräusche von Grace, die als Wolf verheerende Schäden in die Wände des unteren Badezimmers kratzte, genauso wenig ertragen konnte, war es auf gewisse Art sogar ein Segen, aus dem Haus zu kommen, auch wenn ich ein furchtbar schlechtes Gewissen deswegen hatte. Nur weil ich nicht da war, um ihre Panik mit anzuhören, bedeutete das schließlich nicht, dass sie keine verspürte.
Es war ein schöner Tag, der erste in dieser Woche, der keine Anzeichen von Regen zeigte. Der Himmel hatte das träumerische, weite Blau des Sommers, Monate zu früh, und die Blätter an den Bäumen strahlten in tausend Grünschattierungen, von fast neonartigem, künstlich wirkendem Knallgrün bis ganz knapp vor Schwarz. Anstatt wie sonst hinter dem Laden zu parken, stellte ich den Wagen diesmal auf der Hauptstraße ab, weit genug außerhalb der Innenstadt, dass ich keine Parkuhr füttern musste. In Mercy Falls waren das nur ein paar Hundert Meter Unterschied. Ich ließ meine Jacke auf dem Beifahrersitz des VW liegen, schob die Hände in die Hosentaschen und marschierte los.
Mercy Falls war keine reiche Stadt, aber es war auf seine ganz eigene Art idyllisch und verfügte daher über eine hübsche, belebte Stadtmitte. Dieser Charme plus die Nähe zu den schönen Boundary Waters lockten Touristen an und die Touristen brachten Geld mit. Mercy Falls bot ihnen eine Fülle an hübschen Boutiquen, in denen sie es loswerden konnten, hauptsächlich von der Sorte, bei der Ehemänner lieber im Auto warteten oder sich die Zeit im Eisenwarenladen auf der Grieves Street vertrieben. Ich warf trotzdem einen Blick in die Schaufenster, an denen ich vorbeikam. Ich hielt mich ganz am Rand des Gehwegs, sodass mich die Strahlen der zögerlichen Morgensonne erreichen konnten. Sie waren angenehm auf meiner Haut, wie ein kleiner Trostpreis in dieser schrecklichen, wunderbaren Woche.
Ich war gerade ein paar Meter an einem Laden vorbei, der Kleidung und Nippeskram verkaufte, als ich abrupt stehen blieb und kehrtmachte, um mir die Auslage noch einmal genauer anzusehen. Dort stand eine kopflose Schaufensterpuppe in einem weißen Sommerkleid. Ganz schlicht: dünne Träger, ein lockeres
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