In Den Armen Der Finsternis
ohnehin schon viel zu viel gesehen. Wahrscheinlich hatte ich ihnen noch mehr Angst gemacht, als ich weggelaufen war.
Zee und die anderen näherten sich mir. Ich deutete auf Rohw. »Geh und beschütze Byron und die anderen. Bring ihnen Jacken und etwas Nahrung. Versuche, dich nicht sehen zu lassen, aber pass auf sie auf!«
Der kleine Dämon nickte und verschwand in den Schatten. Dek und Mal stimmten die Melodie von U2s: I Still Haven’t Found What I’m Looking For an.
»Grant«, sagte ich zu Zee. Ich war immer noch richtig atemlos.
Zee legte seine Klauen auf meine Knie. »Ruh dich aus, Maxine. Wir suchen ihn.«
Aaz kam mit Kleidungsstücken zurück, mit einer Jeans, einem leichten, schwarzen Pullover mit rundem Ausschnitt und einem warmen Mantel. Aber ohne Unterwäsche. Ich zog mich hastig und ungeduldig an und sicherte die Reste meines Messergurts, so gut ich konnte. Ich hörte das Schlurfen von Schuhen auf Stein und dachte an Byron. Vielleicht hatte er ja versucht, mir zu folgen. Immerhin hatte ich den Jungen auf einem Berg mit einer verrückten alten Frau, einer Psychopathin und
einer Art Werwolf zurückgelassen. Ich war schon eine tolle Beschützerin!
Ich folgte dem Geräusch, während ich mich fragte, wie es mir gelungen sein mochte, so weit und so schnell zu laufen. Es war ja schon schwierig genug, sich langsam über den bewaldeten Berghang zu manövrieren. Ständig stolperte ich über Steine und Wurzeln.
Doch einige Minuten später fand ich die Person, von der die Geräusche ausgegangen waren. Es war Mary. Sie kauerte auf einer kleinen Lichtung und trank aus einem Rinnsal Wasser. Sie war allein. Im Lichte der Sterne schimmerten ihr weißes Haar und ihre weißen Glieder, und einen Augenblick lang wirkte sie gar nicht menschlich auf mich. Sie sah so anders aus, dass ich stehenblieb und mir ins Gedächtnis rufen musste, dass ich die alte Frau ja kannte.
Während ich mich ihr näherte, richtete sie sich auf. Wasser tropfte von ihrem Kinn. Mit ihren dünnen Gliedern und den anmutigen Bewegungen wirkte sie wie eine wilde Kreatur des Waldes auf mich. Selbst ihr Kleid und ihr Pullover sahen im Schatten anders aus, so als würde sie nichts tragen - außer der Nacht. Ihr Atem bildete silbrige Wolken, aber sie schien die Kälte gar nicht zu bemerken.
Zuerst dachte ich, sie hielte ein Messer in der Hand, aber es war nur ein Stein, der eine scharfe Kante hatte. Ihre sehnigen Arme waren von flachen Schnitten übersät. Der Blick war wild und das Weiße ihrer Augen strahlte so hell wie Schnee. Blut tropfte von ihrer Haut auf den Boden. Sie hatte die Lippen so fest zusammengepresst, dass sie dünn wie eine Klinge aussahen.
»Mary«, sagte ich.
»Ich habe ihn schon wieder im Stich gelassen«, flüsterte sie
zitternd. »Ich war wie in einem Nebel gefangen. Ich habe es einfach geschehen lassen, wieder und wieder.«
»Nein«, widersprach ich ihr entschieden. »Du hättest gar nichts tun können.«
Sie verzerrte das Gesicht und presste die Handwurzel gegen ihre Stirn. Sie hielt immer noch den Stein in der Hand, die scharfe Seite kam ihrem Auge gefährlich nahe. Ich tat noch einen Schritt auf sie zu und konnte sehen, wie die Verzweiflung ihre Gesichtszüge aufzulösen schien. Am liebsten hätte ich geweint.
Um sie. Und um mich.
»Ich bin eingesperrt«, hauchte sie. »Ich kann ihm nicht helfen. Kann ihm nicht helfen, obwohl er mich braucht. Und dieser Körper hier … Dieser Körper ist doch nicht das, was ich einmal hatte. Er ist nicht das«, sie schnitt sich mit dem scharfen Stein in die Haut, »was ich«, und damit zog sie sich erneut den scharfen Stein über den Arm, was eine rötlich glühende Wunde hinterließ, aus der kurz darauf das Blut quoll, »was ich einmal hatte!«
Ich ließ nicht zu, dass sie sich schon wieder verletzte, packte die Hand mit dem Stein und erwartete, dass sie ihn losließ. Stattdessen jedoch kämpfte sie mit mir darum, und zwar mit aller Kraft. Mary war überraschend kräftig und dabei erschreckend schnell. Sie trat zurück und tat etwas mit ihrem Fuß und ihrer freien Hand, was mich zu Boden warf. Dek und Mal quiekten vor Überraschung in meinen Ohren.
Einen Moment lang lag ich auf dem Rücken und sah zu, wie sie sich den Stein erneut auf ihren Arm legte. Ich ergriff ihren Knöchel und zog fest daran, nicht fest genug jedoch, um sie zu Fall zu bringen. Aber es war so kraftvoll, dass sie stolperte. Während sie um ihr Gleichgewicht rang, rollte ich mich auf die
Seite und sprang auf. Ich
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