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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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spürte, wie mich Zee und die anderen aus den Schatten beobachteten. Ich gab ihnen ein Zeichen, sich fernzuhalten, und versuchte erneut, Mary die steinerne Klinge abzunehmen. Sie trat mit der Beweglichkeit einer Ballerina gegen mein Gesicht. Ihre Gliedmaßen bewegten sich wie geschmiert. Ihre Augen blickten wild, ihr dichtes weißes Haar stand ihr vom Kopf ab. Dabei hatte sie die Zähne gefletscht.
    »Mary!«, schrie ich, während ich mit ihr rang. »Mary, hör mir doch zu!«
    Endlich schien ich sie zu erreichen. Sie hörte auf, sich zu wehren, aber ihr Körper blieb so angespannt, dass ich es nicht wagte, mich selbst zu entspannen. Wie in einer Pattsituation starrten wir einander an, und dabei sah ich etwas in den Augen der alten Frau, etwas Klares, Starkes und erschreckend Zielstrebiges.
    »Grant«, stieß sie heiser hervor, während sie mich mit ihrem Blut beschmierte. »Er steckt in Schwierigkeiten.«
    »Ich weiß«, erwiderte ich. »Wir müssen ihn finden.«
    Mary blickte zum Himmel hoch. Lautlos bewegte sie die Lippen, aber ihr Körper war schlaff und blutüberströmt. Ich wollte von ihr zurücktreten, aber da schoss ihre Hand vor und packte mich. Ich zuckte schon zusammen, Mary wollte jedoch gar nicht kämpfen. Sie hielt mich nur fest und starrte in die Sterne. Auf ihrem Gesicht malte sich eine verblüffende Lebhaftigkeit ab.
    »Ich kann sein Lied hören«, flüsterte sie. Dann fasste sie meinen Nacken. Ihre Finger waren kräftig und vom Blut recht klebrig. Ich konnte ihre Augen nicht sehen, weil wir zu dicht beieinander standen, aber dann flüsterte sie mir ihre Worte leise ins Ohr. »Grants Frau. Lichtbringer stehen niemals allein.«

    »Erzähl es mir«, sagte ich, als ich das Drängen in ihrer Stimme wahrnahm und spürte, dass es da noch mehr gab, was ich verstehen musste. »Erzähl mir, was das bedeutet.«
    »Ein Herz brennt aus«, flüsterte sie. »Zwei Herzen leben.«
    Die Worte durchdrangen mich wie ein Zauberspruch. Dek und Mal begannen tief im Schatten meiner Haare zu summen, und Zee drängte sich an meine Beine. Mary wich gleichzeitig zurück und betrachtete die Jungs mit furchtlosen Blicken. Sie hatte noch nie Angst vor ihnen gehabt.
    »Habe sie gefunden«, schnarrte Zee. Mary fletschte erneut die Zähne - sowohl zu einem Lächeln als auch zu einem Knurren. Ich spürte, wie ich dasselbe tat, und die Dunkelheit in meinem Herz rührte sich, ruhig und besonnen. Ich hätte Angst haben sollen, und das hatte ich auch, aber nicht genug, um mich vor mir selbst zu verstecken. Ich war bereit, ein wenig an mich zu glauben.
    Ich streckte Zee meine rechte Hand hin, aber er ignorierte die Rüstung. Seine roten Augen glühten, er krümmte die Klauen und grub sie in den Boden. »Wir laufen, wir jagen, süße Maxine.«
    »Wir jagen«, stimmte ich ihm zu und krümmte meine Hände. »Mary?«
    Die alte Frau lachte wild und setzte sich in Bewegung. Wie der Geist einer Löwin, der zwischen den Bäumen dahinrannte. Ich folgte ihr und stellte fest, dass das Laufen einfacher war als das Gehen. Ich flog förmlich dahin.
    Wir liefen den Berg hinauf, rannten über einen schmalen Pfad. Mary war sehr schnell und dabei anmutig. Im Licht der Sterne wirkte es so, als würden die Jahre von ihr abfallen. Ich hatte Schwierigkeiten, mit ihr Schritt zu halten. Zee sprang vor uns her und Aaz tauchte immer wieder aus den Schatten auf. Ich
lauschte dem leisen Trommeln meiner Herzschläge, die in meinem Kopf erklangen: so tief und wild, als hörte man die Welt atmen und sich hin und her wälzen, während man selbst in den Fängen eines traumlosen Schlummers lag. Es fühlte sich merkwürdig an. So alt wie Stein, Erde und Blut. So alt wie Donner.
    Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Als Zee schließlich langsamer wurde, befanden wir uns auf der Kuppe einer Anhöhe mitten in den Bergen. Mary und ich kletterten auf Felsbrocken, balancierten wie die Ziegen und tasteten uns vorsichtig an den Rand, um hinabzublicken.
    Ich hatte keine Zeit gefunden, mich zu fragen, in welchem Teil der Welt wir wohl waren - und auch das, was ich jetzt unter mir sah, gab mir keine Antwort. Aber in der Ferne, mitten in einem tiefen Tal, bemerkte ich brennende Lichter. Es war eine kleine Ortschaft, vielleicht eine Stadt. Die Zivilisation zu sehen hatte etwas unleugbar Einladendes, vor allem wenn man so tief in der Wildnis eines Berges steckte.
    Doch dann fiel mir ganz in der Nähe, unmittelbar unter uns, eine Bewegung auf. Zwei Männer.
    Ich stand auf und kletterte

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