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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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gedrückt. Aber ich wartete, ohne mich zu rühren. »Meine Eltern haben mir etwas anderes erzählt«, erklärte er schließlich.
    »Aha.« Ich dachte an all die Lügen, die mir meine Mutter aufgebunden hatte. »Und?«
    »Nichts und «, erwiderte er angespannt und griff nach hinten, um die Halskette vom Schreibtisch zu nehmen. Die Kette blitzte weich und golden, als sie über sein Handgelenk fiel.
»Aber ein Jahr ist eine lange Zeit, Maxine. Und die neun Monate davor lassen es noch länger erscheinen.«
    Jetzt endlich verstand ich. »Du meinst, dein wahrer Vater könnte ein anderer Mann sein als derjenige, der dich großgezogen hat.«
    Er wirkte grimmig. »Das würde keinen Unterschied machen, überhaupt keinen.«
    Das würde es durchaus. Zwar nicht, was die Liebe betraf, wohl aber die … Identität. Blutsbande waren schließlich eine ernsthafte Angelegenheit. Es war gut, wenn man die Herkunft von dem kannte, was einem durch die Adern floss. Das half einem, die Füße am Boden zu behalten, wenn man nichts hatte, oder niemanden, an den man sein Herz hängen konnte.
    Ich wusste nicht einmal, wer mein Vater war.
    Grant hob die Halskette und betrachtete die goldenen Glieder. Das Medaillon lag auf seinem großen Handteller. »Ich dachte, sie wäre damit begraben worden. Aber nachdem mein Vater gestorben war, wurde sie in seinen Unterlagen gefunden.«
    Ich betrachtete das goldene Medaillon, seine Linien, die sich in einem Kreis zusammenschlossen, der halb so groß war wie eine CD und fast genauso flach. Oben, wo die Kette hindurchgeschlungen war, gab es eine natürliche Öffnung. Es existierte kein Anfang und kein Ende, sondern nur eine verflochtene Spirale, die immer komplizierter wurde, je schärfer man hinsah. Als wären viele Schichten unter vielen weiteren Schichten begraben, immer und immer tiefer, trotz der täuschend flachen Form der Scheibe. Mir wurde davon schwindlig. Ich musste wegsehen und blinzelte. Grant schloss seine Finger um den Anhänger.
    »Das ist das erste Mal, dass ich es sehe«, erklärte ich. Mir war übel.

    »Ich hole die Halskette genauso oft heraus wie du die Messer deiner Mutter. Als ich die Akte bekam, hatte ich den Wunsch, die Kette noch einmal in der Hand zu halten.«
    Ich beugte mich vor, legte meine Stirn gegen seine warme, kräftige Schulter, und versuchte, meinen aufgewühlten Magen zu beruhigen. »Und was jetzt?«
    »Ich weiß es nicht.« Grant strich mir mit den Fingern durchs Haar. »Mein Dad war … ganz normal. Ein vollkommen sachlicher Typ. Aggressiv und rücksichtslos. Aber nicht so … nicht so wie ich. Ich bin meiner Mutter ähnlicher. Bis auf…« Er fuhr sich mit der Hand, in der er immer noch den Anhänger hielt, an den Kopf. »Wenn sie sehen konnte, was ich sah, und dasselbe vermochte wie ich, dann hat sie es sich jedenfalls niemals anmerken lassen. Und ich habe ihr nur… ein bisschen erzählt.«
    »Du dachtest, du wärst einzigartig.«
    »Aber das bin ich nicht. Vor allem dann nicht, wenn das, was ich tue, mir einen Namen einbringt.«
    »Lichtbringer«, flüsterte ich.
    Er zog mich an sich und legte seinen Mund an mein Ohr. »Nicht menschlich.«
    Ich schloss die Augen. »Hu. Das ist doch kalter Kaffee, Mann. Willkommen im Club.«
    Er legte die Halskette seiner Mutter auf den Schreibtisch. »Ich muss herausfinden, was ich bin. Ich brauche mehr Informationen. Bis jetzt habe ich nur instinktiv gehandelt, weil ich dachte, das wäre alles, was ich hätte. Ich dachte, ich wäre mit dem, was ich tue, ganz allein. Aber ich werde eines Tages einen Fehler machen, etwas tun, was ich nicht tun sollte. Vielleicht werde ich einen … Verstand zu sehr unter Druck setzen. Oder eine zu große Veränderung in der Seele eines Menschen bewirken.
Vielleicht ist es ein Unfall, vielleicht auch nicht. Aber wenn es jemanden gibt, der mich unterrichten könnte …«
    Grant verstummte, und ein Schauer überlief ihn. »Es ist in mir, Maxine. In mir schlummert die Möglichkeit, dass ich zu dem werde, was ich hasse. Ich will … Ich will den Leuten nicht weh tun. Und ich will nicht der Mann sein, der es rechtfertigt, dass man Menschen weh tut. Ich will nicht der Mann sein, der an seine eigene Rechtschaffenheit glaubt, ohne sie zu hinterfragen.«
    Das wollte ich zwar auch nicht, aber ich vertraute Grant doch mehr als er sich selbst. Und die Jungs mochten ihn, was hieß schon eine Menge. Wenn Grant einen Fehler machte, würde das nicht das Ende der Welt bedeuten, das ahnte ich. Natürlich konnte ich ihm

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