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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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»Selbst wenn die Dunkelheit dein Herz verschlingt, bleibe gut in deinem Herzen. Vertraue darauf. Vertraue darauf, dass deine Mutter ihre Aufgabe gut erledigt hat.«

    Ich lachte zwar, aber es war ein leises, tränenersticktes Lachen. »Ich liebe dich. Ich glaube, das habe ich dir nicht oft genug gesagt.«
    »Du bist jetzt zehn Jahre alt«, antwortete sie mit einem leichten Lächeln. »Ich werde daran denken, wenn du das nächste Mal einen Wutanfall bekommst.«
    Ich suchte in meiner Erinnerung nach einer Nacht, als ich zehn Jahre alt war und meine Mutter sich seltsam benommen hatte, als sie nach Hause kam. Als wäre sie ihrer erwachsenen Tochter in einer schmutzigen Toilette begegnet und hätte ein inniges Gespräch über den Tod und die Zeit mit ihr geführt. Aber mir fiel nichts ein. Nur die Nacht, in der sie ermordet wurde. Fast hätte ich davon gesprochen. Ich setzte schon an, um ihr wenigstens eine Warnung zu geben.
    Vielleicht zeigte sich das auf meinem Gesicht. Jedenfalls presste meine Mutter die Lippen zusammen und stieß sich von der Kabinentür ab. »Du musst jetzt gehen, Baby. Diese Zeit ist gefährlich. Es ist uns nicht bestimmt, diese Grenzen zu überschreiten.«
    »Ich hatte aber keine Wahl«, gab ich zurück.
    »Du hattest durchaus eine Wahl«, konterte sie ironisch. »Aber du warst schon immer dickköpfig.«
    »Das musst du gerade sagen.« Ich hob die rechte Hand, an deren Finger die Rüstung meine Haut wie Quecksilber umhüllte. »Was soll ich also tun?«
    »Geh nach Hause«, erwiderte sie ruhig. Ihr Blick schien mir warm und traurig. »Geh und rette die Menschen, die du liebst.«
    Ein Bild von Grant zuckte mir durch den Kopf, Jack, Byron. Ich fragte mich, wie viel sie wohl wusste, aber ich hatte keine Zeit, sie danach zu fragen. Es war keine Zeit mehr. Sie
verblasste, als wäre sie nur ein Geist. Ich konnte durch sie hindurchsehen.
    Im letzten Moment machte sie noch einen Schritt auf mich zu. Sie sprang fast zu mir, drängend und hin- und hergerissen. Ihr Mund bewegte sich. Ich konnte ihre Stimme nicht hören, aber ich las ihr von den Lippen ab.
    Du bist nicht allein , sagte sie. Es gibt noch andere .
    Das war alles. Ich stand immer noch in der Toilette, aber meine Mutter war verschwunden. Ebenso wie die Lippenstiftküsse auf dem Spiegel. Die Kabinen waren jetzt schwarz statt olivgrün. Nur der Boden war derselbe: schmutzige Schachbrettfliesen. Sie wirkten irreal. Das Einzige in meinem Geist, das wirklich blieb, war meine Mutter. Ihre Worte hallten durch meinen Kopf, ihr Gesicht, ihre Gegenwart, alles war noch so gegenwärtig.
    Hinter mir öffnete sich die Tür. Eine Frau kam in die Toilette. Es war eine große Frau mit mächtigem Busen, sie war ganz in Leder gekleidet. Ihr blond gefärbtes Haar war mit Haarspray zu Pferdeschwänzen gestylt, die merkwürdig von ihrem Kopf abstanden.
    »Welchen Tag und welches Jahr haben wir?« Es gelang mir gerade noch, diese Worte auszusprechen, kurz bevor sie in derselben Kabine verschwand, in der auch meine Mutter gewesen war.
    Sie blieb stehen und sah mich an, als wäre ich verrückt. Vielleicht war ich das ja auch. Trotzdem sagte sie es mir. Es war derselbe Tag und dasselbe Jahr, an dem ich Grant und die anderen verlassen hatte. Räumlich war ich zwar nicht zu Hause, aber doch in der Zeit.
    Ich verließ die Toilette und trat in einen dunklen Flur, der nur von einer einzigen Glühbirne beleuchtet wurde, die an
einer langen Kette von der Decke herunterhing. Sie schrie förmlich danach, als Punchingball benutzt zu werden. An den Metallwänden hatte sich Kondenswasser gebildet, die abblätternden Reste von Postern und Telefonnummern waren mit Graffiti verziert, die entweder fabelhafte Pornographie oder eine Schule von Buckelwalen darstellte, die gegen gewaltige Kalmare kämpften.
    Der Flur war schmal und voll von Menschen. Ich sah mehr Haut als Leder, dazu Masken und Peitschen. Meine tätowierten Hände passten also ganz ausgezeichnet hierher. Draußen musste Tageslicht sein, aber hier fühlte es sich eher wie weit nach Mitternacht an, während ein tiefer Bass durch die vibrierenden Wände wummerte. Eine merkwürdige Zeit für eine Party.
    Es war überhaupt ein merkwürdiges Leben - basta.
    Ich drängte mich durch die Menge. Am Ende des Flurs erreichte ich einen riesigen Raum, von dessen Decke künstliche Stalaktiten herunterhingen, zwischen denen eine Discokugel rot glitzerte. Sie war so riesig, dass sie dieses Meer aus Körpern, das unter ihr wogte, spielend in

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