In Den Armen Der Finsternis
schlitzte Arme bis auf die Knochen auf. Frauen schrien, Stimmen zerbrachen wie Glas, aber sie ließen mich nicht los und hörten nicht auf, an mir herumzureißen. Ich hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib gefressen zu werden oder zu sterben oder jedenfalls Schmerz zu empfinden, verschlungen und bespuckt zu werden. Dabei war ich vollkommen von Blut bedeckt, das nicht mein eigenes war. Die Jungs tranken es gierig. Sie kämpften in ihren Träumen. Ich hörte, wie sie in meinem Kopf heulten. Wie Baby-Banshees.
Und dann - vorbei. Die Angriffe hörten auf. Ich stand da, blinzelte und starrte die rotglühenden Gesichter an, die mich wachsam beobachteten. Keiner tanzte mehr. Ich sah zu, wie
Leichen weggeschleppt wurden, wie sie in der Menge verschwanden, die wogte und atmete, während die Musik weiterdonnerte.
Jemand kam näher: ein kleiner, korpulenter Mann, ganz in Schwarz gekleidet. Blut tropfte aus tiefen Schnitten in seiner braunen Wange, und er wischte es mit einer Hand ab, die so heftig zitterte, dass er statt der Wange seine Augen rieb.
»Jägerin«, murmelte er und schwankte unsicher. Ich schlang meinen Arm um seine Taille und stützte ihn. Meine eigenen Knie fühlten sich butterweich an.
»Vater Lawrence«, sagte ich heiser. »Wie schön, Sie zu sehen.«
Danach fasste uns keiner mehr an.
Die Tänzer hielten Abstand, aus einiger Entfernung wirkten sie menschlich. Ich verzichtete aber darauf, sie genauer zu mustern. Die Blondine führte Vater Lawrence und mich weiter und folgte dabei diesem gewundenen, sich schlängelnden Pfad durch den Raum, den ich in weniger als einer Minute hätte durchqueren können, wären nicht die Tänzer um uns herum gewesen. Sie bewegten sich weiter - zu einer Musik, die in meiner Brust wie ein zweiter Herzschlag pulsierte.
Ich tippte der Blondine auf die Schulter. »Wie ist Ihr Name?«
»Mein Name?« Sie musste darüber nachdenken. »Mein Name ist… Nephele.«
»Nephele, was ist das hier für ein Ort?«
Sie warf mir einen Blick über die Schulter zu, als hätte sie noch nie einen solchen Dummkopf gesehen wie mich. »Das ist die Halle des Erlkönigs, Mylady.«
Ah. Nicht Mr. Koenig. Und auch nicht Erl Koenig. Sondern der Erlkönig. Das klang, als wäre es ein Titel.
Vater Lawrence runzelte die Stirn. »Diesen Namen kenne ich. Das ist von Goethe.«
»Von Goethe, dem Dichter?«
»Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig, mit Kron’ und Schweif!«, rezitierte der Priester und zuckte zusammen, als er mit dem Ärmel seine blutige Wange abtupfte. »Der Erlkönig. Der Elfenkönig. Ursprünglich findet man ihn in der skandinavischen Folklore, aber später landete die Kreatur in der germanischen Mythologie. Beide Versionen waren bösartig, kleinwüchsig und grausam.«
Perfekt. Während Mr. Koenig tatsächlich eine dieser übernatürlichen, feenartigen Kreaturen aus diesen Legenden war, bedeuteten diese Elfen wirklich unheimliche Arschlöcher. Ich rieb meine rechte Hand und strich mit den Fingern über die glatte Rüstung, während ich Vater Lawrence einen Seitenblick zuwarf. Er war immer noch dabei, sein Gesicht zu säubern, und das mit einer Konzentration, die ihm offenbar eher helfen sollte ruhig zu bleiben, als das Blut wegzuwischen.
Schaff ihn hier raus! Sofort.
Ich trat näher an den Mann heran, ohne ihn jedoch zu berühren. Irgendwie widerstrebte es mir, hier zu verschwinden. Ebenso hatte ich ein seltsames Gefühl, wenn ich blieb. Aber ich war hier und hatte eine Gelegenheit, dem ein Ende zu bereiten. Vielleicht nützte es nichts. Es konnte sein, dass dies hier die reine Verschwendung war.
Trotzdem, das Überleben war ein täglicher Prozess. Ein Tag mehr war alles, was man brauchte. Bekam man davon genug, dann hatte man vielleicht ein ganzes Lebensalter.
»Wie sind Sie - aus China kommend - ausgerechnet hier gelandet?«, fragte ich Vater Lawrence. Ich musste meine Stimme heben, um mich über die Musik hinweg verständlich zu machen.
Er warf mir einen merkwürdigen Blick zu. »Ich dachte, wir wären noch in China.«
»Mir hat man gesagt, dies hier wäre Toronto.«
Vater Lawrence schloss kurz die Augen. »Vielleicht haben wir auch beide recht. Ich weiß nicht, wie ich an diesen Ort gekommen bin. Ich weiß nur, dass man mich hierhergeschleppt hat, damit ich hier sterbe.«
In seiner Stimme schwang weder Trauer noch Selbstmitleid mit. Ich riss meinen Blick von seinem verletzten Gesicht los und musterte die Menschenmenge, ohne zu wissen, was ich suchte,
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