In Den Armen Der Finsternis
bereits.
Bring mich zu ihm, dachte ich und stellte mir den fetten kleinen Mann vor. Gib mir, was ich brauche.
Grant schrie meinen Namen, doch seine Stimme klang wie von weit her - ich konnte ihn nicht sehen. Ich konnte überhaupt nichts anderes sehen als den Abgrund, der mich verschlang und mir den Atem raubte. Eine ganze Weile hatte ich das Gefühl zu ertrinken, während mein Herz wie ein Schmetterling flatterte, der in einem Käfig aus Knochen gefangen ist. Aber schließlich sah ich ein Licht und tauchte auf. Ich atmete schwer und flach, doch lag ich gar nicht auf meinem Gesicht, sondern stand aufrecht.
In einer Toilette.
Ein Schachbrettmuster aus Fliesen, drei Metallkabinen, von denen eine besetzt war. Es roch nach Marihuana und Desinfektionsmitteln, die beiden Spiegel über dem angestoßenen Waschbecken waren zerbrochen und von aufgemalten Lippenstiftküssen übersät.
Verblüfft drehte ich mich einmal um mich selbst. Mein Herz tat so weh, als presse es eine Faust zusammen. Hinter meinen Augäpfeln war es heiß, und meine Eingeweide brannten. Ich hatte zuvor schon befürchtet, ohnmächtig zu werden, aber jetzt musste es gewiss passieren. Ich trat zurück und stieß gegen das Porzellanbecken. Dort blieb ich stehen, weil ich die Stütze brauchte.
Meine Mutter wirkte zwar jung, so jung wie ich, hatte aber
tiefere Falten auf der Stirn. Sie trug dieselbe Jacke und ähnliche Jeans, aber schon immer hatte sie hohe Baseballturnschuhe Stiefeln vorgezogen. Sie waren grau und schmutzig. Genau wie in meiner Erinnerung. Zee und die anderen Jungs zerrten schmerzhaft an meiner Haut.
»Also«, sagte sie, nachdem sie sich geräuspert hatte. »Deine Großmutter hat mir gesagt, dass das noch einmal passieren könnte.«
»Schon wieder.« Ich vermochte kaum zu sprechen, meine Stimme klang heiser und gebrochen. »Das erste Mal war in der Mongolei. Du bist jung gewesen …«
»… erst vierzehn. Aber ich habe dich seitdem noch zwei Mal gesehen. Damals war deine Großmutter noch am Leben.« Meine Mutter zuckte einmal schwach mit der Schulter. Ihre Gelassenheit war wirklich beneidenswert. Jede Emotion, die unsere Begegnung in ihr auslöste, schien sie vollkommen unter Kontrolle zu haben. »Du kanntest sie, sie kannte dich. Sie mochte das. Sie mochte dich.«
Wenn das so weiterging, würde ich gleich einen Nervenzusammenbruch bekommen. »Ich sollte eigentlich nicht hier sein.«
»Das ist offensichtlich.« Meine Mutter lehnte sich gegen die Kabine. Sie kontrollierte jede ihrer Bewegungen sehr sorgfältig. Sie benahm sich nicht direkt kalt, aber doch sehr beherrscht. Als hätte sie Angst, mich zu berühren. »Baby, was brauchst du?«
Ich muss einen völkermordenden Avatar finden, dachte ich und blickte auf die schimmernde Rüstung an meiner rechten Hand. Ich musste das Leben der Menschen retten, die ich liebte. Ich musste losgehen und kämpfen. Ich musste mich der Finsternis in meinem Herzen hingeben und mein Herz verlieren.
Ich brauchte meine Mutter.
»Ich muss etwas erledigen«, sagte ich zu ihr. »Ich werde jemanden umbringen müssen. Aber ich fürchte mich vor dem, was ich sein werde, wenn ich das getan habe. Ich weiß nicht, was aus mir wird.«
Forschend betrachtete meine Mutter mein Gesicht - ich ertrug ihren prüfenden Blick, so wie ich es viele Male getan hatte, während ich darauf wartete, dass sie die richtigen Worte fand. Was ihr nie leichtfiel. Ich hätte am liebsten geweint, als ich dastand. Gleichzeitig wollte ich lachen, mit den Füßen aufstampfen, stattdessen jedoch verfiel ich in unsere bekannte Routine. Ich genoss unsere alte Gewohnheit, als wäre es Atemluft, Herzschlag und Leben. Als könnte es mein Leben retten.
»Ich weiß auch nicht, was aus dir wird«, sagte meine Mutter schließlich. »Ich weiß gar nicht, was in uns schlummert, aber ich weiß, was du befürchtest. Davor kann ich dich nicht retten, das kann niemand. Alles, was du tun kannst ist, dir selbst zu vertrauen.«
»Das tue ich aber nicht«, antwortete ich. »Das kann ich nicht.«
»Dann hast du nichts«, erwiderte sie ernst. »Alles, was wir sind, alles, was sie werden, entsteht aus dem, was wir selbst zu sein glauben, was wir uns zutrauen zu sein, hier und jetzt, selbst in dem Augenblick des Zweifels.« Meine Mutter legte ihre behandschuhte Hand über ihr Herz. »Also, wer bist du, Maxine Kiss? Zu welcher Person habe ich dich erzogen?«
»Zu einer guten Person«, flüsterte ich.
»Dann sei auch gut.« Ihre Augen glitzerten hell.
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