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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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bis ich die Worte, die mir auf der Zunge lagen, nicht mehr zurückhalten konnte.
    »Es tut mir leid«, sagte ich. »Das ist meine Schuld.«
    Vater Lawrence stolperte. Ich griff nach seinem Arm, aber er hatte die Hand schon ausgestreckt und nahm meine Hand. Die Kraft seines Griffs und die Intensität seines Blickes überraschten mich.
    »Sie irren sich«, sagte er und fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Sie sind nicht das, was ich erwartet habe.«
    »Sie dürften kaum genug von mir wissen, um überhaupt etwas zu erwarten«, murmelte ich und dachte an die Tätowierung auf seinem Unterarm. Ich rieb mir das Kinn und den Rand der versteckten Narbe unter meinem Ohr. »Wer sollte ich Ihrer Meinung nach denn sein?«
    »Jemand Kälteres«, erwiderte er und betrachtete mein Gesicht. »Jemand Rücksichtsloseres.«
    »Na ja, ich bin nicht gerade Mutter Teresa, das ist schon wahr.«
    »Selbst Mutter Teresa war nicht Mutter Teresa. Legenden überwiegen immer die Wahrheit. Wie bei Ihnen auch, Jägerin Kiss.«

    Ich entzog ihm sanft meine Hand. Nephele hatte sich umgedreht und beobachtete uns mit geneigtem Kopf. Obwohl ihre Augen ruhig und trübe wirkten, musste ich unwillkürlich denken, dass dies eine Maske war, unter der sich eine ebenso wilde und gefährliche Kreatur verbarg wie auch die Tänzer es waren, die ungerührt weitertanzten. Als bringe es sie um, wenn sie aufhörten, sich zu bewegen. Bei ihrer rastlosen Energie wurde mir schwindlig - und die Musik war so laut, dass meine Zähne schmerzten. Zee bewegte sich unablässig, als wollte er sich befreien.
    Zu viele Fragen gingen mir im Kopf herum - und es war nicht genug Zeit für all die Antworten, die ich brauchte. Ich streifte Vater Lawrence mit einem kurzen Seitenblick, bevor ich erneut Nephele anstarrte. »Aus welchem Grund sind Sie in mein Leben verwickelt worden?«, fragte ich ihn. »Haben Sie das kurze Ende des Priesterstabs erwischt?«
    Vater Lawrence betrachtete seine Hände, die kurz zitterten. »Auch ich war einmal besessen.«
    Ich sah ihn scharf an. Nephele kam auf uns zu, ihr seidenes Gewand floss über ihren Körper, und ihr großartiges Gesicht wirkte kühl und leer. Sie blieb unmittelbar außerhalb unserer Reichweite stehen.
    »Sie sollten aufpassen, wo Sie hingehen«, sagte sie.
    »Beiß mich doch«, antwortete ich, während ich immer noch über Vater Lawrence’ Worte nachdachte.
    Sie lächelte unmerklich, und ihr Mund schien plötzlich in der Luft zu schweben, über ihrer Haut, den Knochen und den Muskeln. Nephele schimmerte wie eine Fata Morgana, und erneut überfiel mich ein Schwindel. Mir wurde schwarz vor Augen - und dann flimmerten Sterne.
    Als ich wieder klar sehen konnte, war alles verändert.

    Zunächst einmal schien es ruhig zu sein. Keine Musik spielte. Die Menge war verschwunden. Es tanzten zwar immer noch einige Männer und Frauen, allerdings lautlos und weit verstreut. Sie waren groß und bleich, und ihre Körper wirken seltsam, wie zergliedert, als würden sich die Beine unabhängig von den Hüften bewegen, und die Hände unabhängig von den Armen. Das waren langsame und sorgfältige Bewegungen, als sehe man Tänzern bei einer Pantomime zu, wie sie eine Uhr darstellten. Und es gab mehr Seide als Leder. Sie trugen eine ähnliche Kleidung wie die Blondine. Und jeder von ihnen hatte eine Maske.
    Eiskalt durchfuhr es mich. Es war, als wären wir durch einen Spiegel getreten, von einem gotischen Gewühl in eine venezianische Maskerade, wo die Augen nur Schatten hinter Schlitzen aus Tuch und Knochen waren und sich die Körper unter glitzernden Juwelen und kostbaren, geschmiedeten Metallen abmühten. Der Duft von Rauch und Sandelholz erfüllte die warme Luft. An der Decke hing keine Discokugel, sondern lediglich eine Glühlampe in Gestalt einer halben Sonne, so rot wie ein Rubin, die aus den Stalaktiten herausragte, die nun nicht mehr aus bemaltem Plastik, sondern aus echtem Stein bestanden, so lang und scharf wie Dolche. In weiter Ferne, unendlich weit entfernt, standen gewaltige Säulen aus bräunlich weißem Marmor um Schornsteine herum, die mehr und mehr in den nebelverhangenen Schatten verschwanden.
    Die Halle des Erlkönigs. Oder der Olymp, Asgaard, jener mythische Tempel der Legenden. Dies hier war Magie, das war das wilde, unheimliche Unbekannte. Wäre ich jemand anders gewesen, die Ehrfurcht hätte mich niedergedrückt. Ich hätte mich wie eine Zarge verbogen, mich vor Staunen gekrümmt.
    »Jägerin.« Vater Lawrence berührte meinen

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