In den Armen der Nacht
Felsnadeln ragten aus dem hohen, smaragdgrünen Gras. Koniferenhaine umsäumten die von Wind und Wetter ausgewaschenen Klippen. Knotiges Dickicht überzog den zerklüfteten Berg wie ein dicker bräunlich grüner Pelz, knorriges Geäst und nahezu undurchdringliches Dornengestrüpp hielten unliebsame Eindringlinge fern.
Er konzentrierte sich abermals auf das Kloster.
Die kleine Basilika war aus dem weichen Stein der Region erbaut, in den die Steinmetze filigrane Reliefs getrieben hatten. Verwitterte Wasserspeier schmückten
die vielen Winkel und Erker. Das Kreuz auf dem hohen Glockenturm ragte in den blauen Himmel. Die Kapelle war alt, sehr alt und beschaulich klein, mit schmalen Buntglasfenstern und einem hübschen Holzportal, in das Heiligenfiguren geschnitzt waren. Der Berg mutete wild und archaisch an, das Kloster indes schien ein Ort des Friedens, des Glaubens und der Ruhe.
Dieser Ort war zweifellos voller Widersprüche und barg dunkle Geheimnisse, schoss es Rurik spontan durch den Kopf.
Eine winzige, schwarz gekleidete Frau mit steif gestärktem weißem Nonnenhäubchen trat eben aus der Klosterkirche.
Schwester Maria Helvig.
Eine Brille mit flaschendicken Gläsern vergrößerte ihre alterssichtigen blauen Augen und die blassen Wimpern. Ihr Gesicht unter der Nonnenhaube war von einem Netz feiner Fältchen gezeichnet. Ein Lächeln erhellte ihre Züge, als sie mit ausgestreckten Armen auf Tasya zulief.
Rurik merkte, dass sie zögerte, denn Tasya wich impulsiv einen Schritt zurück. Dann lächelte sie ebenfalls und akzeptierte die Willkommensgeste der alten Frau.
Schwester Maria Helvig fasste Tasyas Hände, küsste sie enthusiastisch und sagte in holprigem Englisch: »Ich habe euch schon erwartet!«
Rurik stand mit vor der Brust verschränkten Armen da und starrte die Nonne an. Sie trat zu ihm, streckte die Hände nach ihm aus, woraufhin er seine Hände verlegen hinter den Rücken nahm und sich stattdessen tief
vor ihr verbeugte. »Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Schwester.«
Die Ordensschwester blieb stehen. Und lächelte. »Aber natürlich! Jetzt erkenne ich Sie wieder! Er hat mir von Ihnen erzählt.«
»Wer hat Ihnen von mir erzählt?«, fragte Rurik scharf.
Schwester Maria Helvig deutete mit ausgestrecktem Arm zum Himmel. » Er dort oben.«
Ruriks Züge entspannten sich. Er grinste und senkte den Blick, wie ein verlegener Schuljunge. »Hat Er Ihnen auch erzählt, wie das hier ausgehen wird?«
»Er weiß es nicht. Aber Er hofft, dass Sie die richtigen Entscheidungen treffen.«
Rurik blickte auf und wurde ernst. »Das hoffe ich ehrlich gesagt auch.«
Schwester Maria Helvig hob ihre Hand und machte das Kreuzzeichen auf seine Stirn. »Ich bin ganz allein hier, nachdem die anderen Schwestern von uns gegangen sind. Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind. Haben Sie den Schlüssel?«
Tasya machte große Augen. »Was denn für einen Schlüssel? Und wofür?«
»Verzeihung«, murmelte die Schwester verwirrt. »Sie sagten, jemand würde wegen der Ikone kommen.«
Rurik und Tasya erstarrten und staunten Bauklötze.
»Die Ikone? Sie wissen, wo die Ikone ist?«
»Nein, aber sie muss hier irgendwo sein. Die Legende besagt, dass sie hier ist.«
»Welche Legende?«
Die Nonne steckte die Hände in ihre weiten Ärmel.
»Vor ungefähr tausend Jahren erhielt ein mächtiger König aus dem Westen den Tribut eines besiegten Warlords. Das Geschenk verleihe dem Besitzer Macht, so oder so ähnlich beteuerte der Besiegte. Gleichwohl hasste der Warlord den Eroberer, und die Sache war ein gemeiner Trick. Das Geschenk war nämlich ein heiliges Objekt, ein Bild der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind - und wer diese Ikone besaß und kein gutes Herz hatte, der würde vom Pech verfolgt werden.«
Ruriks Herzschlag beschleunigte sich, als er das hörte. Das hier war der Ort. Er wusste es.
Schwester Maria Helvig fuhr fort. »Der Warlord freute sich diebisch, dass er seinem Bezwinger eins ausgewischt hatte. Bald darauf verließ den König das Glück. Er büßte seine Macht ein, war seinen Feinden hilflos ausgeliefert, und er hatte keine Freunde. Er schickte die Ikone in unser Kloster, damit sie sicher aufgehoben wäre. Seitdem befindet sich das Heiligenbild in unserem Besitz.«
»Wie sieht es denn aus?«, wollte Rurik wissen.
»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Ich hab es nie gesehen.« Sie lächelte weise.
»Wissen Sie denn, wo die Ikone ist?«, erkundigte sich Tasya.
»Nein. Das weiß
Weitere Kostenlose Bücher