In den Armen der Nacht
oben. Soweit ich weiß, ist sie nicht mehr ganz richtig im Kopf.«
»Eine Nonne?«
»Schwester Maria Helvig.« Bela schüttelte den Kopf. »Sie weigert sich strikt, das Kloster zu verlassen und in die Stadt zu ziehen. Na ja, sie lebt in dem Konvent seit ihrem achtzehnten Lebensjahr und hat miterlebt, wie alle ihre Mitschwestern starben oder … also sie sind alle tot, und sie ist ganz allein.«
»Und da soll man nicht verrückt werden?«, meinte Rurik trocken.
»Sie ist aber harmlos«, versicherte Bela ihnen. »So harmlos wie der Hügel, da bin ich mir sicher.«
Als Rurik ihr das ausgefüllte Formular hinschob, grinste Bela breit. Dabei sah er einen Goldzahn aufblitzen.
Bela setzte hinzu: »Zumindest wird Ihnen da oben nichts passieren.«
Dabei heftete sie ihre Augen vielsagend auf Tasya. Sonderbar, aber ihn würdigte sie keines Blickes.
22
E ine Stunde später fuhren Rurik und Tasya einen steil gewundenen Bergpfad hoch. Im Rückspiegel sah Rurik, wie Capraru hinter den Kurven verschwand und wieder auftauchte.
Die Lenkung des Wagens hatte zu viel Spiel, das Getriebe stöhnte gequält auf, sobald er auf die Kupplung trat, und der Fahrersitz war auf der falschen Seite. Dennoch hatte Rurik schon etliche steile Bergpässe bezwungen, und dieser bildete da keine Ausnahme.
Weshalb zuckte Tasya eigentlich jedes Mal zusammen, wenn er um eine Kurve bog? Hatte sie seit der Fahrt von Deutschland nach Wien Panik vor seinen Fahrkünsten? Okay, er war in dem Leihwagen, einem komfortablen Mercedes, wie ein Irrer über die Autobahn gerast, trotzdem hatte es nicht eine einzige gefährliche Situation gegeben.
Er könnte sie wütend anblaffen - das machte sein Vater gern, wenn seine Mutter sich krampfhaft am Armaturenbrett festkrallte - oder sie ablenken. Folglich sagte er: »Sieht aus, als hätte Ruyshvania sich von dem Diktator gut erholt.«
»Ja, sieht so aus.« Ihre Zähne schlugen aufeinander, da der Wagen eben in einem Schlagloch aufsetzte.
»Tut mir leid, hab ich zu spät gesehen«, entschuldigte er sich. »Was Bela gesagt hat, stimmt. Die Straße ist verdammt schlecht in Schuss. Die Stadt scheffelt Einnahmen von den Touristen, da könnten sie von dem vielen
Geld doch auch mal diese Ruckelpiste instand setzen, oder?«
»Nööö, lohnt sich vermutlich nicht. Da sie sowieso Angst haben, herzukommen, meine ich.«
Hinter einer Kurve gabelte sich die Straße. Die Abzweigung, die nach rechts führte, war geteert. Auf der anderen lag nur loser Schotter. Beide sahen wenig vertrauenerweckend aus.
Rurik wollte in die geteerte Straße einbiegen.
Tasya wies ihn jedoch an: »Fahr nach links.
Er bremste und kroch langsam weiter. »Bela hat gesagt …«
»Na und? Was spielt das für eine Rolle? Nimm die linke Abzweigung.«
»Die andere Straße ist wenigstens geteert.«
»Ich sehe auf der Karte, dass diese Strecke kürzer ist.«
Er drehte den Kopf zu ihr.
Ihre Begeisterung hielt sich schwer in Grenzen. Hatte er sie in der Nacht verärgert? Fühlte sie sich womöglich von ihm unter Druck gesetzt? Weil er immer wieder gesagt hatte, dass sie ihm vertrauen sollte?
Oder fühlte sie irgendetwas angesichts dieser Stätte? Ein böses Omen ähnlich der Kälte, die sie in dem Grab gespürt hatte?
»Okay, wir nehmen deine Strecke.« Er legte seine Hand auf ihr Knie.
Sie zögerte, bevor sie ihre Hand auf seine schob. »Ja, bitte, fahr nach links.«
Gottlob fing sie sich zusehends wieder, fand er. Er legte den Gang ein und bog nach links.
Zu seiner Verblüffung hatte Tasya richtig getippt. Sie kurvten noch etwa zehn Meilen über die grottenschlechte Straße, bevor sie durch die Tore des Marienklosters fuhren.
Er parkte, und sie stiegen aus. Das Kloster war alt und ein hübsches Kleinod.
Und der Blick! Er hatte zeitlebens in den Cascades in Washington gelebt. Auf seinen Flügen und auf seinen archäologischen Forschungsreisen hatte er manche atemberaubende Sensation bestaunen dürfen.
Die Bergwelt von Ruyshvania war allerdings - einzigartig. Hohe Gipfel, die in watteweiche Wolken ragten. Ein furioses Spiel aus Licht und Schatten, das sich auf den Gesteinsformationen malte, die vor Jahrmillionen entstanden waren. Sie wisperten von Treue und Verrat. So weit das Auge reichte, reckten sich gigantische Bergriesen in den Himmel, der als verwaschen blaue Linie mit dem Horizont verschmolz.
Als er den Blick von dem gewaltigen Bergpanorama löste, bemerkte er, dass der »Hügel«, auf den sie gefahren waren, ähnlich bizarr anmutete.
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