In den Armen der Nacht
und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.
»Hab Vertrauen zu mir, Tasya«, wiederholte er. »Du kannst dich immer auf mich verlassen. Ich werde dir niemals wehtun. Ich werde dich nie betrügen, das schwöre ich bei der unsterblichen Seele meines Vaters. Vertrau mir.«
21
W as für ein malerischer Anblick!« Rurik stand vor dem uralten Bahnhofsgebäude und schaute sich um.
Die Zeit schien spurlos an Capraru vorübergegangen zu sein. Die Ruinen seiner mittelalterlichen Mauern säumten den historischen Stadtkern. Gegenüber dem Bahnhofsvorplatz stand eine Kirche mit einem hohen Zwiebelturm. Blumenkästen schmückten die niedrigen Häuser, die schmalen Gassen waren mit Kopfstein gepflastert. Einige Autos waren neu, aber Rurik sah auch gut erhaltene Modelle, die gewiss schon etliche Jahre auf dem Buckel hatten und sich langsam durch den Fußgängerstrom quälten, der sich durch die engen Straßen schob.
»Ruyshvania stand früher unter sowjetischer Führung. Nach dem Zerfall der UdSSR ergriff der selbsternannte Führer Czajkowski die Macht und behielt sie bis vor neun Jahren. Nach einem grausamen Regiment wurde er abgesetzt und exekutiert, seitdem bemühen sich die Bewohner, den Anschluss an das einundzwanzigste Jahrhundert zu finden. Die malerische Kulisse hat sich letztlich bezahlt gemacht - die Amerikaner lieben die sauberen Straßen und die typische Gastfreundschaft, und der Tourismus floriert.« Tasya klang wie ein Reiseführer, kühl und gut informiert berichtete sie mit distanzierter Miene.
Das verblüffte ihn. Zuvor hatte Tasya ihm bei jedem
Bahnhofsaufenthalt begeistert von den Schönheiten der jeweiligen Orte vorgeschwärmt. Und ihm erklärt, wie oft sie schon dort gewesen war.
Vielleicht litt sie unter der Anspannung, die Ikone finden zu müssen und womöglich zu scheitern. Vielleicht rätselte sie aber auch, wie er das letzte Nacht gemeint haben könnte.
Er hatte es immer wieder gesagt: Vertrau mir.
»Komm, wir schauen mal, ob wir jemanden finden, der uns zum Kloster mitnimmt.« Rurik legte ihr aufmunternd seine Hand auf den Rücken.
Tasya verstellte die Trageriemen ihres Rucksacks und rollte mit den Schultern, als wären sie ihr immer noch unbequem.
Möglich immerhin, dass sie von letzter Nacht geschafft war und ihr alles wehtat. Wenn ihre Muskeln heute vor Anstrengung rebellierten, würde sie wenigstens an ihn denken und dass er ihr ganz selbstlos himmlische Wonnen beschert hatte. Vertrau mir. » Lass mich den tragen.« Er griff nach dem Rucksack.
Sie sprang zur Seite. »Nein, das schaff ich schon noch.«
Hoffentlich ging sein Plan nicht nach hinten los. In der Nacht hatte sie sich an ihn geklammert, sich ihm hingegeben, sich trotz ihrer Ängste in das Reich der Leidenschaft entführen lassen. Wahrscheinlich hatte seine kleine Emanze jetzt wieder Panik, weil sie ihre Unabhängigkeit in Gefahr glaubte - aber das war in Ordnung. Sie konnte nicht weglaufen. Sie musste eine Ikone finden.
»Ich mag die Menschen hier. Sie sehen sympathisch
aus.« Die meisten Passanten hatten dunkle Haare und großflächige Gesichter, und sie bewegten sich zielstrebig, als nähmen sie ihr Schicksal selbst in die Hand. »Sie erinnern mich irgendwie an meine Mutter.«
Sie japste leise verblüfft. »Sie erinnern mich auch an meine Mutter.«
Ihre Mutter? Sie sprach von ihrer Mutter? Vielleicht baute sie endlich so etwas wie eine Vertrauensbasis zu ihm auf.
Er lauschte intensiv auf den Dialekt. Er klang überhaupt nicht wie das Russisch, das seine Eltern ihm beigebracht hatten, und hätte ebenso gut Portugiesisch oder Spanisch sein können. Soll heißen, er verstand kein Wort. »Sprichst du die Sprache?«
»Nein! Wieso, sollte ich?«
»Keine Ahnung. Ich meine, du sprichst Französisch …«
»Grottenschlecht!«
»… und Deutsch, und du hast dich mit diesen Touristen auf Japanisch unterhalten …«
»Na und? Ich kann auch nicht jede Sprache. Okay? Ich bin Fotojournalistin und nicht der Turm zu Babel.«
»Nun hab dich doch nicht so! Ich dachte bloß, du könntest ein paar Wörter auf Ruyshvanisch.« Mann, war sie zickig. Wenn seine Mutter und seine Schwester derart ausrasteten, wussten er und seine Brüder, was angesagt war. PMS hieß das Zauberwort - nur dass die Brüder es heimlich als Umschreibung für »Pack meine Sachen« verwendeten und als Entschuldigung, um sich verkrümeln zu können. Dann gingen sie zelten und
fischen und bedauerten ihren Vater, der zu Hause mit zwei total ungenießbaren Weibern
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