In den Armen der Nacht
würden sich gern mal die Abtei anschauen.« Die Nonne stand vor dem Kloster, fit und fröhlich, als hätte sie den Ausflug in die Vergangenheit mit ihren schlimmen Erinnerungen ganz locker weggesteckt.
»Gern. Wenn die Ikone tatsächlich hier versteckt ist, finden wir womöglich irgendwelche Anhaltspunkte, wo wir suchen können.« Rurik klang ungeheuer zuversichtlich, ein Mann, der vermutlich nie panisch gellende Schreie gehört oder den Gestank brennender Leiber gerochen hatte und der die Hölle weit, weit weg wähnte.
Die Nonne hielt beschwörend eine Hand hoch und legte den Kopf schief, als lauschte sie auf irgendetwas. Dann sagte sie: »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Tasya blinzelte in die Sonne, die magentaglühend am westlichen Horizont stand. O Schreck, sie war bestimmt nicht versessen darauf, über Nacht hierzubleiben.
»Die Schwestern schlagen vor, dass Sie, junger Mann, das Anwesen und die Nebengebäude durchstreifen.« Die Nonne fasste Tasyas Hand. »Diese junge Dame und ich werden uns in der Kapelle umschauen.«
Auf Ruriks Gesicht mischten sich Erleichterung und Verblüffung. »Gute Idee.«
Tasya war froh, dass sie ihn für eine Weile los war. Im Moment wünschte sie Rurik und seine Familie in Washington auf einen fernen Planeten. Er platzte geradezu
vor Selbstbewusstsein und wildem Aktionismus. Das ging ihr mordsmäßig auf den Geist, und sie wich demonstrativ seinem Blick aus.
Sie blieben im Portal zur Kapelle stehen. Diese hatte eine hohe gewölbte Kuppel, bunte bleiverglaste Fenster waren in das Mauerwerk eingelassen, die gesprungenen Scheiben waren durch neue ersetzt worden. Spinnweben hingen an der Decke und an dem mehrarmigen Leuchter, der Altar jedoch wirkte wie frisch gewienert; das feine, blütenweiße Altartuch war mit goldenen Fäden durchwirkt und bestimmt schon sehr alt.
Schwester Maria Helvig bekreuzigte sich mit dem Wasser aus dem Weihwassergefäß, tauchte ihre Finger erneut hinein und machte das Kreuzzeichen auf Tasyas Stirn. »Es ist besser, wenn ich das mache«, erklärte sie. »Sie hadern zu sehr mit Gott, um es selbst zu tun.«
Das stimmte - aber woher wusste die Nonne das?
»Ich habe stets vermutet, dass die Ikone hier irgendwo sein muss.« Sie führte Tasya durch das Kirchenschiff zum Altar. »Die Jungen tun immer so clever, und ich denke, es wäre nur gerecht, wenn wir Mädchen den Spieß mal umdrehen.« Sie gackerte aufgeräumt. »Sie finden die Ikone, ganz bestimmt.«
»Irgendeine Idee, wo ich danach suchen könnte?«
»Ich hab eine ganze Menge Ideen!« Die Nonne klatschte in die Hände. »Ich dachte … was?« Sie blickte fragend zu einer ihrer unsichtbaren Begleiterinnen.
»Was?«, wiederholte Tasya.
Die Nonne seufzte schwer. »Schwester Catherine besteht darauf, dass ich Ihnen nicht helfen darf.«
Tasya biss sich auf die Lippe und verkniff sich ein gereiztes
»Blödes Miststück«. Das hätte die gute alte Ordensfrau bestimmt irritiert.
Am liebsten hätte sie lauthals geflucht.
Unter Schwester Maria Helvigs gestrengem Blick schlenderte Tasya zum Altar, tastete mit ihren Augen die Wände, die Decke, den Boden ab. Sie inspizierte nacheinander die beiden Seitenschiffe.Verwitterter Stein und alte Holzbalken, sonst nichts. Falls es irgendwann einmal ein Hinweisschild mit der Aufschrift IKONE, BITTE HIER ENTLANG! und dem entsprechenden Richtungspfeil gegeben hatte, war es längst verschwunden.
»Setzen Sie sich doch erst mal hin und denken Sie in aller Ruhe nach«, schlug die Nonne vor.
Tasya vermutete, dass ihr Vorschlag der Versuch war, sie möglichst lange in religiöser Andacht zu wissen, aber das führte zu nichts. Hier war detektivischer Spürsinn gefragt. Intuitiv bückte sich die junge Frau und tastete die Fliesen unter dem Altar ab.
»Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich.« Schwester Maria Helvig glitt zum Ausgang der Kapelle, ihre steif gestärkte Tracht raschelte durch die bedrückende Stille.
Tasya blickte sich seufzend um. Sie war schon mal hier gewesen, als kleines Kind, das zu den Reihen der betenden Nonnen aufgeblickt hatte. Ihre Augen verengten sich zu schmalen, entrückten Schlitzen.
Sie sank in jenen Dämmerzustand zwischen Wachsein und Schlaf, wo sich das Unterbewusstsein in Visionen ergeht. Ihre Seele verließ ihren Körper, sah auf sich selbst hinunter, auf das arme Ding, das völlig geschafft in einer Kirchenbank hockte. Ihre Hände lagen
gefaltet in ihrem Schoß. Ihr Kinn ruhte auf ihrer Brust. Sie hatte die Augen
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