In den Armen der Nacht
betrachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus. Wo war der Mann geblieben, mit dem sie sich so prächtig verstanden hatte?
Ein Varinski. Heiliges Kanonenrohr. Der Mann, mit dem sie zusammengearbeitet hatte, mit dem sie geschlafen, dem sie vertraut hatte - war ein Varinski.
Sie hatte mit angesehen, wie er sich in einen Falken verwandelt hatte. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. Es war ein Phänomen, unbegreiflich und übersinnlich. Gleichwohl konnte sie die Klappe nicht halten. »Du hast mir hinlänglich bewiesen, wie blöd ich bin. Du hast mich angelogen und ausgetrickst, und ich blöde Tussi bin dir voll auf den Leim gegangen. Darauf kannst du dir echt was einbilden!«
Er blieb abrupt stehen, riss sie zu sich herum. »Okay, okay. Also mal im Klartext: Als ich dich kennen lernte, hatte ich keine Ahnung, dass du mit den Varinskis im Clinch liegst. Du kannst es mir glauben, ich fand es nicht wirklich lustig, dich anzulügen. Ich hab dich verführt, weil ich dich begehrte. Ich will dich immer noch, und verdammt nochmal, ich werde mein Menschenmögliches tun, damit du lebend aus dieser Geschichte rauskommst.«
»Ja, klar.« Ihr wurde ganz schwindlig im Kopf, wenn er sie so anschaute und dermaßen überzeugend klang. Da hätte sie fast wieder schwach werden können. »Deswegen hast du ihnen auch brühwarm erzählt, wer ich bin.« Sie umklammerte ihren Rucksack automatisch fester.
Verdammt, sie musste sich konzentrieren. Sie hatte die Ikone entdeckt. Was er nicht wusste. Und so sollte es gefälligst auch bleiben.
»He, hab dich mal nicht so. Ich wollte dich bloß zum Schein als Geisel einsetzen, um bei ihnen glaubhaft rüberzukommen. Sonst hätten sie mich womöglich eiskalt einen Kopf kürzer gemacht.« Er lief weiter, zerrte sie hinter sich her. »Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, aber es gibt da gewisse Spannungen zwischen den russischen Varinskis und den amerikanischen Wilders. Tot bin ich völlig nutzlos für dich.«
»Du hast mir nie erzählt, dass du ein Varinski bist.«
»Bin ich auch nicht. Ich bin ein Wilder. Der Sohn meines Vaters und meiner Mutter.« Er zog sie in eine grasbewachsene Senke, wo die Varinskis ihre Seesäcke, Gewehre und Pistolen versteckt hatten. Sein Blick
schweifte prüfend über das unwegsame Gelände, dann ließ er seinen Rucksack hinter einen Felsen gleiten. Er nahm ihr sein T-Shirt aus der Hand, zog es sich über den Kopf. »Und als du mir deine Geschichte erzählt hast, steckten wir praktisch schon mittendrin und waren auf der Flucht.«
»Es hat dich niemand gezwungen, bei mir zu bleiben.« Sie sah zu, wie er in seine Boxershorts stieg, seine Messer an der Wade befestigte und seine Hose anzog. »Red keinen solchen Quatsch. Vertrau mir, Tasya. Ich werde dich nicht im Stich lassen. Das schwöre ich dir bei der Seele meines Vaters.«
»Die Seele deines Vaters ist inzwischen so rabenschwarz von deinen vielen Beteuerungen, dass er vermutlich in der Hölle brutzeln wird.«
Rurik bohrte seinen Blick forschend in ihren. Er schaute sie nur an, und einen Wimpernschlag lang sah sie in die Tiefen seiner gequälten Seele.
Seelenqualen waren ihr nicht fremd. Sie lebte damit.
Ihr Rückgrat versteifte sich.
Nein, sie hatte kein Mitleid mit ihm. Mit einem Varinski.
Sie warf seine restlichen Sachen und seine Schuhe ins Gras und wischte sich demonstrativ die Finger an der Hose. »Pah, wieso trag ich dir eigentlich die Sachen?«
An den Felsen gelehnt, zog er sich Socken und Schuhe an, dann pickte er sich aus dem Waffenarsenal der Varinskis eine Halbautomatik heraus. Er entsicherte die Waffe. »Komm, lass uns von hier verschwinden.«
»Gute Idee.« Sie bückte sich, um sich eine von den Pistolen zu nehmen.
Er hielt ihre Hand fest. »Kannst du überhaupt schießen?«
»Ich hab fleißig geübt.«
»Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen.« Er klang grimmig amüsiert. »Okay, Spaß beiseite. Ich würde ganz gern wissen, ob du dich im Ernstfall gegen die Varinskis verteidigen kannst. Ich fürchte nämlich, dass ich mich gezielt darum kümmern muss, selbst am Leben zu bleiben.«
Er klang skeptisch. Gut so. »Glaubt man den Varinskis und ihrer Legende, kann ich dich gar nicht töten.«
»Stimmt haargenau. Trotzdem, wenn du mir eine Kugel ins Herz jagst, bin ich erst mal für eine Weile handlungsunfähig.«
»Gut zu wissen.« Sie fixierte ihn provozierend.
»Halt die Klappe, du nervst.« Er erwiderte ihren Blick. »Weißt du was? Ich erklär dir, wie man damit umgeht, und
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