In den Armen der Nacht
in ihren Rucksack gepackt hatte. Dass sie fest vorhatte, sie mitzunehmen. »Dann war das alles - die Grabung, die Jagd durch Europa nach dem Schokoriegel - bloß für deine Familie und speziell für deinen Vater?«
»Die Legende stimmt. Der Teufel zerschlug die Ikone und zerstreute die Teile in die vier Himmelsrichtungen.« Rurik breitete die Arme aus, als wäre er der über alles erhabene Fürst der Finsternis - und Tasya fand, dieses Bild passte ganz gut. »Meine Familie muss die vier Teile wieder vereinigen. Nur so lässt sich der Pakt mit dem Teufel brechen.«
»Wie anrührend. Es bricht mir das Herz.«
Sie erreichten den schmalen Felsgrat, der die schwindelerregend hohen Klippen miteinander verband.
Er hielt ihr hilfsbereit seine Hand hin.
»Interessiert dich die Geschichte oder nicht?«
Doch, sogar brennend. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie suchte fieberhaft nach einer Erklärung. »Aber logo. Bei den Varinskis hängt wohl der Haussegen schief.« Sie stapfte angstfrei vor ihm her. Wovor sollte sie Angst haben? Vor einem Sturz? Das war lächerlich. Nachdem sie mit ihrem schlimmsten Feind geschlafen hatte?
Rurik folgte ihr über den unbefestigten, geröllbedeckten Weg.
Sie konnte und mochte sich die sarkastische Bemerkung nicht verkneifen, die ihr auf den Lippen brannte. »Uff, das hätte ich fast vergessen. Du bist ja selbst ein Varinski«, platzte sie heraus.
Er umklammerte ihren Arm und hielt sie fest. Ausgerechnet an der engsten Stelle blieb er stehen und wartete.
Sie durfte nicht nach unten sehen. Sie würde auch nicht nach unten sehen. Nein, ganz bestimmt nicht - sie sah nach unten. Steil in die Tiefe auf bedrohlich spitze Felsformationen.
Sie riss den Blick los und fixierte Rurik.
Klar, dieser Schuft konnte hier bis zum St.-Nimmerleins-Tag stehen. Denn wenn er das Gleichgewicht verlor und stürzte, konnte er fliegen.
Sie ruderte zurück. »Das mit dem Haussegen war nicht so gemeint. Bitte, erzähl mir die Geschichte. Erzähl einfach drauflos.«
Er ließ sie los und folgte ihr, als sie sich vorsichtig weitertastete. »Mein Vater war einer von Konstantines
Nachkommen und seinerzeit der Clanchef der Varinskis - und er war der erste Varinski, der sich verliebte.«
»In deine Mutter?«
»In meine Mutter. Als sie ausrissen, weil sie heiraten wollten, stellten seine Familie und ihr Clan ihnen nach. Keine der beiden Gruppen war einverstanden mit der Verbindung. In der sich anschließenden Auseinandersetzung tötete Konstantine seinen Bruder. Die Varinskis hätten ihm das niemals verziehen, folglich flohen Konstantine und Zorana nach Amerika, änderten ihren Nachnamen in Wilder und zogen in die Berge von Washington. Sie bekamen drei Söhne.« Seine Stimme wurde weich, verträumt. »Und dann geschah das Wunder. Meine Mutter wurde wieder schwanger, und dieses Mal war es ein Mädchen, das erste Varinski-Mädchen nach tausend Jahren.«
Rurik machte keinen Hehl daraus, dass er seine Schwester vergötterte, dummerweise goss er damit Öl ins Feuer. Tasyas ohnehin angespanntes Nervenkostüm rebellierte. »Kommt mir so vor, als wäre ich in einem Horrorstück gelandet«, giftete sie. Erst als sie das Ende des Bergpfads erreicht und wieder halbwegs festen Boden unter den Füßen gewonnen hatte, verlor sich ihr Ärger.
Darauf hatte Rurik spekuliert. Er schlenderte mit weit ausholenden Schritten neben ihr her. »Meine Eltern hofften, dass damit der Pakt gebrochen wäre, aber als Jasha in die Pubertät kam, konnte er sich plötzlich in einen Wolf verwandeln. Adrik transformierte sich in einen Panter. Firebird, also meine Schwester, verwandelt sich zwar nicht in ein Tier, aber sie ist stark und
schlau, und sie kann die ganze Familie um den Finger wickeln.«
»Und du bist ein Falke.« Tasya hatte keine gesteigerte Lust, den Weg zu dem unterirdischen Gang einzuschlagen. Folglich kletterte sie weiter den Berg hinauf.
Rurik folgte ihr. »Als Teenager fanden wir das total cool. Es durfte natürlich niemand wissen, also stahlen wir uns heimlich davon, schlüpften in unser Alter Ego und hielten uns für die heißesten Typen in der ganzen Stadt. Anders als meine Brüder kann ich die Transformation steuern. Mein Vater behauptet sogar, dass ich der Einzige in der Familie bin, der das kann. Ich kann einen Arm in einen Flügel verwandeln oder einen Fuß in eine Kralle oder meine Augen auf die Schärfe eines Jagdfalken einstellen.«
»Hey, gib mal nicht so an.« Von wegen Angabe. Er schwelgte in den Erinnerungen
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