In den Armen der Nacht
an eine Jugend, die voller Freiheiten und Privilegien gewesen war. Dergleichen konnte Tasya natürlich nicht nachvollziehen.
»Ja. Ich war eine echt heiße Nummer. Mein Vater beteuerte, dass uns jede Transformation näher an den gähnenden Abgrund der Hölle bringen würde, ich war mir jedoch sicher, dass mir die körperlichen Veränderungen irgendwann zugute kämen.« Während er sprach, verdunkelte sich seine Miene. »Dann passierte die Katastrophe. Als Adrik siebzehn war, kam er irgendwie in Schwierigkeiten und … verschwand spurlos. Wir verfolgten seine Spur bis nach Asien, aber … nichts. Ich dachte immer noch, ich könnte die Falken-Nummer unbehelligt durchziehen. Fliegen war einfach das Größte für mich!«
Allmählich realisierte sie, dass diese Erinnerungen
nicht ganz ungetrübt waren. »Und deshalb bist du Pilot geworden.«
»Alle waren der Meinung, dass ich der beste Pilot der Air Force war, der Typ, der die brandneu entwickelten Flugzeuge testen und die besten Rekruten ausbilden durfte.«
Sie hörte die Bitterkeit aus seiner Stimme heraus. Redete sich ein, dass sie das nicht kümmerte. Und fragte trotzdem: »Und? Was ist damals passiert?«
»Bei einem Aufklärungsflug hatte ich meinen Blick auf die Scharffokussierung eines Falken eingestellt. Mein Kopilot, der das dummerweise zufällig mitbekam, war dermaßen schockiert, dass er über feindlichem Gebiet absprang. Bevor wir ihn befreien konnten, hatte der Feind ihn gefasst und zu Tode gefoltert.«
Er sprach eindringlich leise, tief bestürzt, sein Schuldbewusstsein umgab ihn wie ein dunkler Trauerflor.
Sie empfand - sie empfand fast so etwas wie Mitleid für ihn.
»Mein Vater hatte Recht. Eine Gabe des Teufels kann nichts Gutes bewirken, und dieser junge Pilot musste erst sterben, ehe ich das kapierte. Damals nahm ich mir fest vor, mich nie wieder zu verwandeln.«
Sie wollte kein Mitleid mit ihm haben. Pustekuchen, das hatte er bestimmt nicht verdient. Schließlich hielt er sich auch nicht an sein Versprechen, ihr Leben zu schützen. »Kam bei dem Flug denn gar nichts Positives heraus?«
»Ich enttarnte eine feindliche Nuklearbasis, die wir unschädlich machen konnten.«
War er so blöd oder tat er bloß so? »Aha, und wie
viele Menschenleben konntest du dadurch retten, hm? Meinst du nicht, der Teufel hätte die Sache manipuliert, um dich daran zu hindern, deine Gabe für gute Zwecke einzusetzen?«, fauchte sie. »Komm schon, Rurik, stell dich nicht dümmer, als du bist. Wenn du die Dämonen der Hölle besiegen willst, brauchst du jede Waffe in deinem Arsenal. Du musst bloß vorsichtiger sein und darfst dich nicht verwandeln, wenn dir irgendein Idiot dabei zusieht - so läuft das.«
»Matt Clark war kein Idiot.«
»Tut mir leid, aber ein Mann, der aus einem sicheren Flugzeug grundlos über feindlichem Territorium abspringt, ist für mich ein Idiot. Anders kann ich das nicht nennen.«
Er lachte, ein kurzes, heiseres Bellen. »Meine Schwester hat es ähnlich formuliert.«
»Und wieso hast du nicht auf sie gehört?«
»Sie war erst siebzehn, und ich war … ich war mächtig down.« Er kratzte sich am Kopf. »Möglich, dass ihr mit eurer Einschätzung Recht habt.«
»Das kannst du laut sagen.« Tasya blieb neben dem steinernen Altar stehen und ließ ihren Blick über die Weiten des Landes schweifen. Ihr Land. Sie liebte die Berge, die Täler. Das grandiose Panorama.
Ein entscheidender Punkt fehlte ihr noch bei der Geschichte. »Du kannst dich in einen Falken verwandeln. Fliegen, wann und wohin du möchtest. Deine Brüder schlüpfen in die Gestalt von Raubtieren. Wieso willst du eigentlich den Pakt auflösen?«
»Wenn ich - wenn wir - es nicht tun, wird unser Vater auf ewig verdammt werden.«
Er blickte in die Ferne.
»Kannst du jetzt so weit sehen wie ein Falke?«, wollte sie wissen.
»Nein, wenn ich den Raubvogelblick draufhabe, sehen meine Augen anders aus. Ganz anders.« Er drehte sich zu ihr, und seine Augen sahen ganz normal aus. Es waren Ruriks Augen, die Augen des Mannes, den sie liebte.
War sie noch ganz bei Trost? Wie konnte sie einen Varinski lieben? Wie konnte sie auf dem Grund und Boden ihrer Vorfahren stehen und ihre Eltern verraten, deren Tod verdrängen und ihren Wunsch nach Rache sang- und klanglos aufgeben?
Nein. Nein! Das würde sie niemals tun. Ihr Entschluss stand fest.
Das Wissen um die Ikone brannte sich in ihr Bewusstsein. Wenn sie die nächste Begegnung mit den Varinskis lebend überstand, könnte sie Rurik
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