In den Armen der Nacht
eine alte Frau, kroch sie durch die Felsen.
Dabei kam sie in Kassians Nähe.
Er holte mit dem Fuß aus und trat sie in die Rippen.
Sie rollte den Abhang hinunter, ihren Rucksack vor den Bauch gepresst, und knallte vor einen Findling.
Kassian war ein Hüne, muskulös, kaltblütig und schnell.
Das war Rurik egal. Tasya reagierte exakt so, wie er sich das vorgestellt hatte.
Er drängte sich zwischen die Varinskis, packte Kassian am Kragen, bohrte seinen Blick in dessen rotgeränderte Augen. »Ich hab nichts davon gesagt, dass du sie treten sollst!«
»Du hast mir auch nichts zu sagen!« Kassians heißer Atem roch nach Knoblauch und Schwefel.
»Irrtum.« Rurik trat ihm in die Eier.
Kassian krümmte sich vor Schmerz, schnellte jedoch blitzartig vor und rammte seinen Kopf in Ruriks Magen.
Rurik rollte sich auf den Rücken, winkelte sein Knie an und trat Kassian unters Kinn, bevor sein Gegner aufstehen konnte.
Der Russe stolperte nach hinten.
Sergei und Ilya stürzten sich gleichzeitig auf Rurik.
Tasya atmete tief durch. Sie versuchte, den Nebel zu lichten, der ihren Blick trübte.
Mit einer Hand umklammerte sie ihren Rucksack, mit der anderen stützte sie sich an dem Felsen ab und versuchte schwankend aufzustehen.
Sie musste sich konzentrieren. Und schleunigst verschwinden.
Sie würden Rurik töten.
Sergei und Ilya schlugen auf ihn ein, und Rurik schlug zurück. Er hatte ihr gesagt, dass er ein guter Kämpfer sei. Jetzt hatte sie den Beweis. Er trat und boxte, sprang gegrätscht in die Luft, so schnell, dass sie seinen Bewegungen kaum folgen konnte.
Wie ein Actionheld, schoss es ihr durch den Kopf.
Ihr Blick fing ein metallisches Glitzern auf. Sie schaute genauer hin - und da war es. Das Waffenarsenal der Varinskis. Ein Gewehr mit Zielfernrohr. Eine weitere Halbautomatik. Eine Flinte. Und jede Menge Munition.
Der höllische Schmerz in ihrer Rippengegend war mit einem Mal ausgeblendet. Tasya warf geistesgegenwärtig Pistole und Flinte in den Fluss. Dann prüfte sie, ob das Gewehr geladen war. War es. Sie stopfte sich die Waffe unter den Arm. Verbuddelte die Munition in der weichen Erde.
Als sie aufblickte, stürzte Kassian sich gerade mit in das Gemenge, was der Dynamik eine neue Dimension gab.
Rurik, der von drei Leuten überwältigt wurde, wehrte sich zwar mit seinen Fäusten und gezielten Tritten, musste aber dennoch ganz ordentlich einstecken.
Dann passierte es.
Es ging so schnell, dass Tasya es gar nicht richtig mitbekam. Er verwandelte sich. Rurik verschwand, und an seiner Stelle erhob sich ein Falke aus der Gruppe, flog in die Lüfte.
Rurik.
Sie hob triumphierend ihre Faust. Super gemacht, Rurik!
Er fixierte sie, und sie bemerkte das Aufblitzen in seinen Raubvogelaugen.
Er hatte ihr eine Steilvorlage geliefert. Und wollte, dass sie das Überraschungsmoment nutzte.
Sie warf sich hastig den Rucksack über eine Schulter und rannte fluchtartig die Böschung hinauf zum Konvent.
Bei jedem Schritt spürte sie schmerzhaft den Tritt, den Kassian ihr verpasst hatte. Sie bekam kaum Luft. Das Gewicht des Gewehrs zog sie nach unten. Trotzdem mochte sie sich nicht davon trennen - gut möglich, dass sie die Waffe noch brauchen würde.
Sie spähte immer wieder über ihre Schulter, verfolgte mit bangem Herzen Ruriks Kampf.
Ein riesiger schwarzweißer Adler verfolgte den Falken.
Ilya.
Sie hastete weiter und sah sich abermals um.
Die beiden Raubvögel kämpften in der Luft, flügelschlagend und kreischend. Ilyas Schwingen schlugen nach Rurik, aber der Falke war kleiner und wendiger. Er wich den Angriffen geschickt aus und hackte mit Krallen und Schnabel auf den Adler ein.
Der Kampf war ästhetisch und tödlich.
»Los, Rurik«, wisperte sie. »Na komm schon. Du kannst es schaffen. Du gewinnst diesen Kampf.«
Zum ersten Mal, seitdem sie aus der Kapelle und geradewegs in die Arme der Varinskis gelaufen war, schöpfte sie neue Hoffnung.Vielleicht würden sie doch noch beide überleben. Vielleicht verzieh er ihr dann, dass sie ihm den Ikonenfund verschwiegen hatte. Vielleicht … vielleicht konnte sie mit einem Varinski leben, solange er Rurik hieß. Vielleicht war das aber auch alles nebensächlich. Hauptsache, sie kämen lebend aus der Geschichte raus …
Sie ließ den Blick schweifen. Blieb stehen. Schwenkte herum.
Sie war jetzt hoch in den Bergen und blickte über Felsgeröll und Baumgruppen, die die Landschaft säumten. Die Raubvögel kämpften zwar noch miteinander, aber der Adler hatte
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