In den Armen der Nacht
sie, wäre sie in Sicherheit
- in einem anderen Land, in einem anderen Leben.
Sie war schon einmal in dieser unterirdischen Passage wiedergeboren worden. Jetzt musste sie abermals diesen schmerzvollen Prozess durchlaufen.
Diesmal war sie nicht mehr das hilflose Kind an der Hand ihrer Gouvernante. Es war ihre freie Entscheidung.
Sie öffnete ihren Rucksack, wühlte darin herum und ertastete ihre Taschenlampe.
Mist, die Kunststoffummantelung war gerissen.
Grundgütiger, sie würde diesen Horrortrip ohne Licht machen müssen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Ihre Finger tasteten sich über die scharfkantigen Felswände, während sie zaghaft einen Fuß vor den anderen setzte.
Wenn sie wenigstens nicht allein wäre …
Sie blendete diesen Gedanken aus, bevor er sich in ihrem Bewusstsein festsetzte.
Sie durfte nicht an Rurik denken, an seinen gebrochenen Blick, in dem das letzte Fünkchen Leben erstarb.
Sie musste sich auf ihre Flucht konzentrieren. Sie hatte einen Varinski angeschossen, die beiden anderen waren völlig unversehrt. Würden sie umgehend die Verfolgung aufnehmen? Wohl eher nicht. Sie mussten sich um ihren Bruder kümmern und um Ruriks … Leichnam.
Tasya mochte sich gar nicht ausmalen, was sie mit Ruriks Leiche anstellen würden. Sie konzentrierte sich mental auf ihre Flucht.
Und hastete durch die immerwährende Nacht.
Das Licht, das durch den Felsspalt eingedrungen war, verlosch zusehends, und jeder Schritt wurde ein Schritt ins Ungewisse.
Nein, nicht ins Ungewisse. In die Vergangenheit.
Sie war noch so jung gewesen, ein kleines Kind, uneinsichtig und wütend, weil sie von ihrer Mutter fortgezerrt wurde. Sie hatte nach ihrem Kindermädchen getreten und versucht, sich loszureißen, zurückzulaufen und bei den Löscharbeiten zu helfen. Miss Landau hatte sie jedoch unerbittlich weitergezerrt. Es war der Hartnäckigkeit der gestrengen Miss Landau zu verdanken, dass Tasya irgendwann kapitulierte; ihre Gouvernante bestand auf korrekten Manieren in jeder Lebenssituation und duldete mithin nicht, dass ihr kleiner Schützling dermaßen ausflippte.
Sobald Tasya sich damals wieder etwas gefangen hatte und ihre Umgebung wahrnahm, registrierte sie die Finsternis. Und sie bemerkte andere Dinge - den muffigerdigen Geruch, das leise, unaufhörliche Tröpfeln von Wasser, schartige Felsen, die ihr in die winzigen Finger schnitten. Sie merkte auch, dass die sonst so unerschütterliche Miss Landau ein leichtes Zittern überlief.
Die undurchdringliche Dunkelheit zerrte an ihren Nerven. Sie tasteten sich durch den Gang - Tasya setzte immer einen Fuß vor den anderen und tippelte weiter. Trotzdem kam es ihr so vor, als käme sie nicht vom Fleck. Wie jedes Kind - und jeder Erwachsene - hatte Tasya ihr Vorwärtskommen an dem gemessen, was sie sehen, fühlen und riechen konnte, aber hier unten blieb alles gleich.
Hier unten blieb alles gleich - meilenweit, Jahrmillionen lang.
Inzwischen war Tasya erwachsen. Ihre Schritte waren ausgreifend. Im Laufe ihres Lebens hatte sie sich von einem furchtsamen Kind zu einer selbstbewussten Frau entwickelt. Sie war davon überzeugt, alles mit ihrer Kamera, ihren Reportagen und, wenn es sein musste, mit ihren Fäusten regeln zu können.
Während sie zügig durch den Tunnel lief, grübelte sie fieberhaft. Wie würde sie sich nach dieser Flucht fühlen? Würde sie sich selbst mit anderen Augen sehen, womöglich eine andere sein?
Sie lief stundenlang weiter, schaute dabei gelegentlich auf die Leuchtziffern ihrer Uhr.
Zwei Stunden.
Vier Stunden.
Acht Stunden.
Bisweilen, wenn ein weiterer Stollen in den Hauptgang mündete, spürte sie einen leichten Luftzug. Die meiste Zeit war die Luft kalt und frisch, aber einmal stank sie bestialisch, und einen Herzschlag lang lüftete sich der Schleier der Vergangenheit, und vor ihrem geistigen Auge gewahrte Tasya einen Mann, der mit Gold beladen war. Er brach unter dem Gewicht zusammen und fand hier in dieser unterirdischen Höhle den Tod.
Sie zwang sich, nicht zu rennen, obwohl sie am liebsten weggelaufen wäre vor den leeren Augenhöhlen in dem Schädel, die sie amüsiert beobachteten.
Schnappte sie allmählich über oder was?
Ihre Füße taten weh. Sie hatte höllische Kopfschmerzen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie fühlte
sich schrecklich allein gelassen, Gedanken kreisten in ihrem Kopf wie der Falke am Himmel - sie hatte alle verloren, die sie geliebt hatten, und jetzt hatte sie wieder verloren. Vor ihr lag ein Leben
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