In den Armen der Nacht
schlimmer erwischt als ich.«
»Wie das?«
»Weil sie das hier hatte.« Eve legte eine Hand auf die Fotografie. »Und jetzt hat sie es nicht mehr. Wenn man von ganz unten kommt, kann es nur aufwärts gehen. Sie jedoch kann ganz tief stürzen, bei ihr ist also das Gegenteil der Fall.«
»Ich werde ihr helfen. Ich werde bei der Suche nach
der richtigen Familie mein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen. Und das tun Sie am besten auch.«
»Ja.« Eve lehnte sich ebenfalls auf ihrem Stuhl zurück und schloss kurz die Augen. »Aber darüber kann ich jetzt nicht nachdenken. Wir haben ein paar Spuren, die recht vielversprechend sind.«
»Gibt es sonst noch irgendwas, worüber Sie mit mir reden wollten?«
»Am besten sprechen wir im Gehen.« Nachdem Eve aufgestanden war, berichtete sie von dem morgendlichen Zwischenfall mit Nixie in ihrem heimischen Büro.
»Darüber sprechen wir in unserer nächsten Sitzung.«
»Ja, okay. Und jetzt muss ich Yancy Feuer unterm Hintern machen, damit er die Phantombilder der beiden Täter endlich fertig kriegt.«
»Viel Glück.«
Das könnte sie tatsächlich brauchen, dachte Eve. Es wäre wirklich langsam an der Zeit für etwas Glück.
14
Yancy saß in einem kleinen, verglasten Raum in seiner Abteilung und trank Kaffee mit Ophelia, die immer noch dieselben bunten Federn und dieselbe grelle Schminke wie am Vortag trug. Im gleißenden Licht der Deckenlampen sah sie wie die meisten Straßennutten, wenn man sie bei Tageslicht betrachtete, ein wenig verlebt, ein wenig geschmacklos und nicht allzu verführerisch aus.
Trotzdem baggerte Yancy sie nach Kräften an.
»Also, dann hat dieses Arschloch mir erklärt, ich müsste singen. Meinte, anders kriegt er keinen hoch. Er hat
sich ausgerechnet die Nationalhymne gewünscht. Können Sie sich so was vorstellen?«
»Und was haben Sie gemacht?«
»Was glauben Sie denn? Natürlich habe ich gesungen. Die Melodie ging noch ganz gut, aber die Worte habe ich mir einfach ausgedacht. Wir standen also in dieser engen, dunklen Gasse und haben im Duett gejohlt.«
»Und was ist dann passiert?«
»Irgendwann hat er ihn endlich hochgekriegt, und als wir das Lied zum dritten Mal gesungen haben, sogar abgespritzt. Danach kam er jeden Dienstagabend und jedes Mal hat sich das Spielchen wiederholt. Ich habe mir sogar extra ein rot-blau-weißes Outfit für den Typen zugelegt. Schließlich wollte ich ihm etwas bieten für sein Geld.«
»In Ihrem Metier lernen Sie sicher die unterschiedlichsten Gestalten kennen.«
»Schätzchen, wenn man so lange anschafft wie ich, gibt es nichts, was man noch nicht gesehen hat. Zum Beispiel letzte Woche –«
»Entschuldigung«, mischte sich Eve mit kalter Stimme ein. »Tut mir leid, dass ich das Plauderstündchen unterbreche, aber ich müsste kurz mal mit Detective Yancy reden. Detective?«
»Tut mir leid, Ophelia. Ich bin sofort wieder da.«
»Oooh, so sauer, wie sie aussieht, zermalmt sie sicher gerade irgendwelche Steine und spuckt Ihnen gleich die kleinen Körner ins Gesicht.« Ophelia zwinkerte dem Maler fröhlich zu. »Passen Sie bloß auf sich auf.«
Sobald die Tür des Zimmers hinter ihr ins Schloss gefallen war, baute sich Eve vor Yancy auf. »Was zum Teufel tun Sie da? Sie trinken in aller Seelenruhe Kaffee und lassen sich von Ihrer Zeugin Geschichten vom Straßenstrich erzählen, statt Ihrer Arbeit nachzugehen.«
»Ich mache sie einfach locker, damit ich besser mit ihr arbeiten kann.«
»Sie hat von uns ein Bett, etwas zu essen und sogar einen Fernseher bekommen. Meiner Meinung nach müsste sie inzwischen völlig locker sein. Ich brauche Ergebnisse, Detective, und keine Anekdoten, mit denen ich nach Feierabend meine Freunde unterhalten kann.«
»Im Gegensatz zu Ihnen weiß ich, was ich tue. Und wenn Sie mich schon fertigmachen wollen, warten Sie zumindest, bis ich mit der Arbeit fertig bin.«
»Sagen Sie mir, wann zum Teufel Sie mit Ihrer Arbeit fertig sind, dann trage ich es schon mal in meinem Terminkalender ein.«
»Wenn ich in einer Stunde nichts Brauchbares von ihr bekomme, kriege ich auch nichts mehr.«
»Sehen Sie zu, dass Sie was kriegen. Und bringen Sie die Bilder in den Konferenzraum C.«
Sie kehrten einander die Rücken zu, und Eve marschierte, ohne auf die neugierigen Blicke der Kollegen und Kolleginnen zu achten, zornbebend aus dem Raum.
Als sie in den Konferenzraum kam, war Peabody schon dort und bereitete alles für die Besprechung vor. Wenigstens hatte sie die Pflichten einer
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