In den Armen der Nacht
drüben gehen gerade die Chrysanthemen und die Astern auf. Am liebsten würde ich einen Riesenlaubhaufen zusammentragen und kopfüber reinspringen. «
Eve blieb stehen und starrte sie mit großen Augen an. »Himmel«, war alles, was sie denken konnte, als sie entschlossen weiterlief und das Haus betrat.
Dort lauerte bereits Summerset, der böse Geist der Eingangshalle, in seinem schwarzen, frisch gestärkten Anzug und verzog missbilligend das hagere Gesicht.
»Wie ich sehe, haben Sie beschlossen, sich auch mal wieder hier blicken zu lassen.«
»Ja. Und wenn Sie mir nicht sofort aus dem Weg gehen, kriegen Sie von mir einen Tritt in Ihr hässliches Hinterteil verpasst.«
»Sie haben ein Kind in dieses Haus gebracht, das es braucht und auch erwartet, dass es hin und wieder etwas Aufmerksamkeit von Ihnen geschenkt bekommt.«
»Ich habe eine minderjährige Zeugin in dieses Haus gebracht, die von mir erwartet, dass ich herausfinde, wer ihre Familie ermordet hat. Wenn Sie sich nicht um sie kümmern können, während ich das tue, hole ich einen Kinderpflegedroiden, der sie während meiner Abwesenheit versorgt.«
»Ist das alles, was sie für Sie ist?«, fragte er mit kalter Stimme. »Eine minderjähige Zeugin? Selbst ein Droide hat wahrscheinlich mehr Gefühl als Sie. Sie ist ein Kind von nicht einmal zehn Jahren, das unaussprechliches Grauen miterleben musste und einen unaussprechlichen Verlust erlitten hat. Und wenn man Sie nicht dazu zwingen würde, nähmen Sie sich nicht einmal die Zeit, um morgens ein paar Minuten während des Frühstücks mit ihr zusammen zu sein.«
»Ich weiß genau, was sie erlitten hat«, erklärte sie kalt, auch wenn sie ihre Finger fest im Holz des Treppenpfostens vergrub. »Ich bin diejenige, die durch das Blut gewatet ist, das die Täter dort vergossen haben. Also halten Sie bloß die Klappe. Hurensohn.« Sie wandte sich zum Gehen, blieb aber auf der dritten Stufe noch mal stehen und sah auf ihn herab. »Sie sollten nicht vergessen, dass sie nicht Ihr Kind ist.«
Peabody blieb stehen und atmete zischend die inzwischen zum Schneiden dicke Luft der Eingangshalle ein. »Das war wirklich nicht erforderlich«, sagte sie leise zu Summerset. »Normalerweise halte ich mich aus den Streitereien zwischen Ihnen beiden lieber raus. Aber das eben war wirklich nicht erforderlich. Wenn auch vielleicht auf eine andere Art als Sie denkt sie jede Minute jeden Tages an das Kind.«
Damit folgte sie Eve in den ersten Stock hinauf.
Eve marschierte zornig in Richtung ihres Büros und stand bereits hinter ihrem Schreibtisch, als Peabody den Raum betrat.
»Dallas –«
»Sagen Sie nichts.«
»Was er gesagt hat, war verkehrt. Das muss ich Ihnen sagen.«
»Lassen Sie mich einfach einen Augenblick in Ruhe.«
Mühsam unterdrückte sie den Zorn, die Empörung und die heimliche Befürchtung, dass Summersets Behauptung richtig war.
Sie hatte sich von dem Mädchen distanziert, hatte sich von ihm distanzieren müssen, um ihre professionelle Objektivität zu wahren. Dafür würde sie sich nicht entschuldigen. Aber sie hatte auch aus einem anderen, persönlicheren, Grund Distanz zu ihr gewahrt. Um nicht allzu viel von ihrem eigenen Leid auf sie zu projizieren, um sich nicht selber in dem Kind zu sehen, das sie beschützen musste. Weil es verloren, mutterseelenallein, außer sich vor Angst und vor allem seelisch angeschlagen war.
Es war ein völlig anderer Fall, sagte sie sich ein ums andere Mal, während sie durchs Zimmer stapfte, ihre Jacke auszog und über einen Sessel warf. Aber würde es ihr vielleicht trotzdem so ergehen wie ihr?
Geriete Nixie so wie sie in die Mühlen des Systems? Vielleicht hätte sie Glück. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde sie bis an ihr Lebensende in unzähligen Albträumen von dem Unaussprechlichen geplagt.
Sie trat ans Fenster, sah hinaus, nahm aber die im Wind tanzenden Blätter und die langsam verbleichenden Farben des Herbstes gar nicht wahr. Sie sah nur das Gesicht des Polizisten, der im Krankenhaus an ihrem Bett gestanden hatte, als sie acht Jahre alt gewesen war.
Wer hat dir wehgetan? Wie heißt du? Wo sind deine Mom und dein Dad?
Nenn mir die Fakten, dachte sie mit einem Mal. Nenn mir ein paar Fakten, damit ich dir helfen kann. Ich darf nicht allzu viel für dieses geschundene Kind empfinden, weil ich sonst meinen Job nicht machen kann.
Sie schloss kurz die Augen, atmete tief durch. Und fing mit ihrer Arbeit an.
»Überprüfen Sie, ob Kirkendall Freunde
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