In den Armen der Nacht
Tages einen attraktiven und verführerischen Mann mit jeder Menge Geld. Dann würde sie auf der Stelle kündigen. Müsste sich nie mehr durch meterdicke Aktenberge wühlen und auch die frustrierenden Kontrollbesuche bei ihren Klienten blieben ihr für alle Zeit erspart. Nie wieder in ihrem ganzen Leben bräuchte sie eine misshandelte Frau oder ein vernachlässigtes Kind zu sehen.
Doch bis es so weit war, ging sie gezwungenermaßen weiter ihrer Arbeit nach.
Heute war sie auf dem Weg zu einem routinemäßigen Kontrollbesuch in einer sicher furchtbar schmuddeligen Wohnung, die das Zuhause zweier nicht minder schmuddeliger Kinder und einer, wie sie annahm, zugedröhnten Mutter war. Sie hatte längst die Hoffnung aufgegeben, dass sich an diesen Dingen auch nur das Geringste ändern ließ. Inzwischen war es ihr sogar egal.
Vielleicht in zwei von hundert Fällen bekamen die
Menschen irgendwann die Kurve und lagen dem Sozialamt nicht mehr auf der Tasche.
Nur, dass sie immer die achtundneunzig anderen Fälle zugeteilt bekam.
Ihre Füße schmerzten, weil sie dumm genug gewesen war, ein paar viel zu teure, neue Schuhe zu erstehen. Ihr mageres Gehalt ließ einen derartigen Luxus eigentlich nicht zu. Aber sie war deprimiert, weil der Mann, mit dem sie seit fünf Wochen hin und wieder ausgegangen war, die Sache mit den Worten beendet hatte, sie deprimiere ihn.
Sie war dreiunddreißig Jahre alt und Single, ohne nennenswerte Freunde und mit einem grauenhaften Job, der sie früher oder später sicher in den Selbstmord trieb.
Sie ging gesenkten Hauptes, wie sie es gewohnheitsmäßig tat, denn dann brauchte sie den Schmutz, den Dreck und die Bewohner dieses Viertels nicht zu sehen.
Sie verabscheute Alphabet City, verabscheute die Männer, die in den Hauseingängen lungerten und sich an die Eier griffen, sobald sie in ihre Nähe kam. Sie hasste den Geruch des Mülls – das städtische Parfüm – und hasste vor allem den fürchterlichen Lärm. Hasste das Dröhnen der Motoren, das Kreischen der Hupen, das Geschrei der Leute, das beständig gegen ihre Trommelfelle schlug.
Bis zu ihrem Urlaub waren es acht Wochen, drei Tage und zwölf Stunden, selbst das Wochenende fing erst in drei Tagen an. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die drei Tage überleben sollte.
Sie sollte sie nicht überleben, doch das war ihr in diesem Augenblick noch nicht bewusst.
Sie achtete nicht auf das laute Bremsenquietschen, das für sie nur ein weiterer Bestandteil der Kakophonie dieses von ihr verhassten Stadtteils war.
Auch, dass sie einen leichten Stoß versetzt bekam, war in dieser elendigen Gegend, in der sich die Grobheit wie eine ansteckende Krankheit auf jeden übertrug, vollkommen normal.
Dann wurde ihr schwindlig, ihre Sicht verschwamm und sie spürte undeutlich, wie jemand sie unter den Armen packte und auf eine harte Unterlage warf. Selbst als sie hinten in dem Lieferwagen landete und sie die Augen zugeklebt bekam, hatte sie das Gefühl zu träumen. Als ihr Hirn endlich die Meldung machte, dass sie um Hilfe rufen müsste, hatte man ihr schon das Betäubungsmittel verpasst.
Bis Mitte des Nachmittags hatten Eve und Peabody zwei von Grants Mandanten und drei von Keelies Klientinnen auf ihrer Liste abgehakt. Sie gingen geographisch vor und deshalb kam als Nächstes abermals eine Klientin von Mrs Swisher dran.
Jan Uger war eine gewaltige Person, die während der zwanzigminütigen Vernehmung drei Kräuterzigaretten rauchte und sich von dem neben ihr stehenden Teller ein buntes Bonbon nach dem anderen zwischen die Zähne schob.
Ihre Haare lagen wie ein riesengroßer, blank schimmernder Ball um ihren runden Schädel, als hätte jemand sie mit Silikon besprüht. Sie hatte pickelige Haut, Hängebacken, ein schwabbeliges Dreifachkinn und nahm, als es um Keelie Swisher ging, kein Blatt vor den Mund.
»Eine Quacksalberin.« Sie stieß eine Rauchwolke aus und fuchtelte mit ihrem Glimmstängel herum. »Sie war eine Quacksalberin. Sie meinte, sie könnte mir nicht helfen, wenn ich mich nicht an die Diätvorschriften halte. Aber schließlich waren wir bei ihr doch wohl nicht beim Militär.«
»Sie sind mal beim Militär gewesen«, meinte Eve.
»Drei Jahre. Dort habe ich auch meinen Stu kennen gelernt. Er hat unserem Land fünfzehn Jahre lang gedient, und ich war währenddessen eine gute Soldatenfrau und habe zwei Kinder großgezogen. Durch die Kinder habe ich auch so viel Gewicht zugelegt«, erklärte sie und schob sich beiläufig das nächste
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