In den Armen des Eroberers
Er brach ab, um neu anzusetzen: »Wenn das geschehen wäre, was wir gedacht haben, dann hat es sich wahrscheinlich zu einem früheren Zeitpunkt ereignet, was allerdings nicht erklärt, warum Tolly erst nach seiner Rückkehr von der Mount Street so aufgewühlt war.«
Sein Gesicht verriet jetzt, da er sich in Honorias Gegenwart nicht mehr verstellte, bedeutend mehr als früher, und sie bemerkte es besorgt. Das ehrenrührige Gerücht beunruhigte ihn, selbst wenn es nicht notgedrungen in Verbindung mit Tollys Tod stehen sollte. »Was hast du?«
Devil verzog das Gesicht. »Ich als Oberhaupt der Familie mag es nun mal nicht, wenn in meinem Keller irgendwelche Leichen gefunden werden.«
Honoria wandte sich ab.
Sie schwiegen einige Minuten lang, und Honoria dachte über die durch Micks Erinnerungen aufgeworfenen Fragen nach, während Devil, äußerlich ganz entspannt, versonnen ihr Gesicht betrachtete. Dann sah Honoria ihn wieder an. »Hast du es den anderen gesagt?«
»Sie standen mit Demon zusammen vor der Tür. Während ich mich mit unserem ehrenrührigen Gerücht herumschlage, versuchen sie, irgendwelche Informationen herauszubekommen. Richard und Demon schauen sich unter den hiesigen Droschkenkutschern um, und Gabriel, ob du es glaubst oder nicht, mischt sich unter die Straßenkehrer. Vane und Lucifer klappern die in Frage kommenden Kneipen ab und hoffen, dort auf irgendeinen Trunkenbold zu stoßen, der gesehen hat, wohin Tolly gegangen ist.«
»Das alles erscheint mir sehr weit hergeholt.«
Devil seufzte und lehnte sich auf der chaise zurück.
»Ist es auch.« Nachdem er eine Weile an die Decke gestarrt hatte, fügte er hinzu: »Sie sind genauso ratlos wie ich, wenngleich ich es mir kaum vorstellen kann.«
Sie blickte ihn fest an. »Nicht immer läuft alles wie am Schnürchen, nur weil du es befiehlst.«
Devil zog die Brauen hoch. »Da magst du recht haben.« Unterschwellige Selbstkritik schwang in seiner Stimme mit, doch gleich darauf veränderte sich die Atmosphäre spürbar. Sie horchten beide auf, und Devil griff nach der obersten Liste auf dem Stapel. »Ich vermute«, sagte er mit einem ostentativen Blick auf die Liste, »daß jede einzelne unserer grandes dames zugegen sein wird?«
»Aber natürlich.«
Ganz gleich, wie unbefangen sie inzwischen miteinander umgingen, schwelte die Flamme in ihnen doch ständig, bereit, bei der kleinsten Berührung, der nebensächlichsten unvorsichtigen Bemerkung aufzulodern. Honoria geriet in arge Versuchung, ihm mitzuteilen, daß sie zu einem Entschluß gekommen war, endgültig und eindeutig, unwiderruflich. Sie hatte lange und gründlich nachgedacht, sie war sich sämtlicher Schwierigkeiten bewußt. Doch sie sah auch die Vorteile und die Möglichkeiten; sie war entschlossen, die Herausforderung anzunehmen.
Und da empfahl es sich, so anzufangen, wie sie fortzufahren gedachte. Sie wollte Horatias Ball als Bühne für ihre Einwilligung nutzen. Ihre kleine Ansprache hatte sie gut geübt …
Sie blinzelte und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Devils Blick, viel zu wissend, ruhte auf ihrem Gesicht. Ihr stieg die Glut in die Wangen.
Er lächelte wölfisch und erhob sich. »Ich sollte lieber Hob-son aufsuchen – er ist von St. Ives angereist, um mir die Bodenerträge vorzulegen.« Er verbeugte sich elegant. »Ich wünsche dir einen schönen Nachmittag, meine Liebe.«
»Ich dir auch, Euer Gnaden.« Honoria neigte anmutig den Kopf. Als Devil zur Tür schritt, fiel ihr die schwarze Trauerbinde an seinem Ärmel ins Auge. Honoria furchte die Stirn. Die sechs Wochen der Trauer, die die Familie sich auferlegt hatte, endeten an diesem Abend; vermutlich würde er am folgenden Tag den Trauerflor ablegen. Das sollte er ihrer Meinung nach auf jeden Fall tun.
Für Honoria begann der Abend des Balls unter günstigen Vorzeichen. Überaus nervös, zur Eroberung gerüstet und gekleidet, stieg sie die Treppe hinunter. Wie gewöhnlich tauchte Webster, noch bevor sie die letzte Stufe erreicht hatte, in der Halle auf; er schritt zur Tür des Salons und legte die Hand auf die Klinke, bevor er in ihre Richtung blickte.
Sein Kiefer klappte herunter – nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber das wirkte Wunder auf Honorias Selbstbewußtsein. »Guten Abend, Webster. Ist Seine Gnaden schon unten?«
»Jawohl, Madam – Miss, wollte ich sagen.« Webster sog rasch den Atem ein und setzte seine übliche Maske wieder auf. »Seine Gnaden wartet.« Mit einer tiefen Verbeugung öffnete er weit die
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