In den eisigen Tod
der aufreibende Kampf, die schrecklichen Entbehrungen, die Angst und die Sorgen –, alles war umsonst gewesen. Was immer Scott zuvor gesagt und gedacht haben mochte – jetzt wusste er, dass er unter allen Umständen hatte gewinnen wollen. »Jetzt auf die Reise nach Hause und hinein in einen verzweifelten Kampf. Ich frage mich, ob wir es schaffen können«, lautete sein heroischer Kommentar in der überarbeiteten Fassung seines Tagebuchs, die später veröffentlicht wurde. Was er tatsächlich am Pol schrieb, war folgendes: »Ein verzweifelter Kampf darum, als erster mit der Nachricht herauszukommen.« Selbst wenn er nicht der erste am Pol war, hoffte er immer noch, der Central News Agency den Knüller zu liefern, den sie erwartete.
Die klassische Reaktion auf extreme Enttäuschung oder Misserfolge besteht, Psychologen zufolge, in dem Versuch, die Situation zu rationalisieren. Scotts Entschlossenheit, noch etwas zu retten, steht in einem interessanten Gegensatz zu der seiner Kollegen. Er hatte nicht Wilsons stillen Glauben, dass alles sich so wendete, wie Gott es wünschte. In Wilsons Tagebuch heißt es stoisch: »Er [Amundsen] hat uns insofern geschlagen, als er einen Wettlauf daraus gemacht hat. Wir haben jedenfalls den Zweck unserer Reise erfüllt und unser Programm verwirklicht.« Bowers’ Brief an seine Mutter klang dagegen munter:
»Jetzt bin ich also wirklich hier und auch froh, hier zu sein. Es ist eine trostlose Landschaft – warum müht man sich so ab, um am Ende eine solche Gegend zu erreichen? ... Es ist traurig, dass die Norweger uns zuvorgekommen sind, aber ich bin froh, dass wir es auf die gute britische Art, den Schlitten selber zu ziehen, geschafft haben. Das ist die traditionelle britische Methode, sich mit dem Schlitten zu bewegen, und dies ist die größte Reise, die Menschen je unternommen haben.« 15
Hier wird deutlich herausgestrichen, dass ihr Weg, der auf »ehrlichem Schweiß« beruhte, ehrenhafter gewesen sei als der Amundsens. Evans’ Reaktion ist nirgendwo verzeichnet, aber für ihn muss es eine schwere Enttäuschung gewesen sein. Mit einem Sieg am Pol hätten er und seine Familie für den Rest ihres Lebens ausgesorgt gehabt, und er hätte sich seinen Traum erfüllen und Besitzer eines Pubs werden können. Oates reagierte mit sarkastischer Distanziertheit. »Heute Nacht sind wir keine sehr glückliche Gruppe«, schrieb er, im Geiste die Achseln zuckend: »Ich muss schon sagen, dass dieser Mann seine fünf Sinne beisammengehabt haben muss. Das Zeug, das er dagelassen hat, war in hervorragendem Zustand, und sie scheinen mit ihren Hundegespannen eine bequeme Reise gehabt zu haben – ganz im Gegensatz zu unserer elenden Schlittenzieherei mit menschlicher Muskelkraft.« 16
Doch allem Anschein zum Trotz waren auch die Norweger erschöpft gewesen und hatten mit der Höhe zu kämpfen gehabt. In Polnähe tritt die Höhenkrankheit schon auf ziemlich niedriger Höhe auf. Am 11. Dezember, als er nur vier Tage vom Pol entfernt war, hatte Amundsen geschrieben: »Wir werden nachher schon wieder unseren Atem finden, wenn wir nur gewinnen.« 17 Er spürte auch den psychischen Auftrieb, den der Erfolg verleiht.
Am 18. Januar, als Scott und seine Männer die nähere Umgebung des Pols erkundeten, stießen sie auf Amundsens südlichstes Lager. Sein Zelt war eine elegante, kompakte Konstruktion, die von einem einzigen Bambusrohr getragen wurde. Im Inneren lagen ein Brief an König Haakon von Norwegen und eine Nachricht von Amundsen, der Scott bat, dafür zu sorgen, dass dieser abgegeben werde. Das war eine Vorsichtsmaßnahme Amundsens für den Fall, dass ihm auf dem Weg zurück nach Framheim irgendein Unfall passierte, obwohl er an diesem selben Tag nur noch eine Woche von der Bay of Whales entfernt war. Scott und seinen Leuten muss dies wie die letzte Demütigung erschienen sein. Scott steckte den Brief ein und hinterließ eine Notiz mit der Mitteilung, dass er im Zelt gewesen war. Den Rest dieses letzten Tages am Pol verbrachten sie damit, Skizzen anzufertigen und einen kleinen Steinhaufen zu errichten, über dem »unser armer, gekränkter Union Jack« wehen sollte. 18 Vor ihm fotografierten sich dann Scott und seine Männer selbst, wobei Bowers den Auslöser mit einer Schnur betätigte. Diese Bilder gehören zu jenen zehn Photos, die am Pol auf eine einzige Filmrolle gebannt wurden. Sie sind die traurigsten der ganzen Expedition, und zwar nicht nur, weil der Betrachter weiß, dass über die
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