In den eisigen Tod
Lüftungsfensters frei. Atkinson kroch hinein und nahm Lashly mit, weil dieser das älteste Mitglied der Gruppe und zugleich der letzte war, der Scott und die Pol-Gruppe noch lebend gesehen hatte. Als er herauskam, sagte Lashly kein Wort, aber aus seinen Augen quollen Tränen.
Cherry-Garrard beschrieb, was sie vorgefunden hatten:
»Bowers und Wilson schliefen in ihren Schlafsäcken. Scott hatte die Klappen seines Sacks am Ende zurückgeworfen. Seine linke Hand war zu Wilson, seinem Freund bis in den Tod hinein, hinübergestreckt. Unter dem Kopfteil seines Schlafsacks lag, zwischen dem Sack und der Zeltunterlage, die grüne Brieftasche, in der er sein Tagebuch aufbewahrte. Darin befanden sich die braunen Bände des Tagebuchs, und auf der Zeltunterlage lagen noch ein paar Briefe.«
Scott lag zwischen seinen beiden Kameraden, deren Ausdruck heiter war, als wären sie sehr ruhig gestorben. Bowers lag flach auf dem Rücken, mit verschränkten Armen; Wilson hatte sich halb aufgesetzt, den Kopf und den Oberkörper gegen die Zeltstange gelehnt und »Spuren eines feinen Lächelns« auf den Lippen. 6 Scott sah mit seinem emporgeworfenen Arm aus, als habe er »im Augenblick seines Todes schwer gekämpft«. 7 Ihre Haut war gelb und glasig und wies Narben auf, die auf die Frostbeulen zurückgingen. Neben Scott stand eine aus einer Dose angefertigte Lampe, für die er, während er schrieb, die Reste des Brennspiritusvorrats verwendet hatte. Etwas Tabak und eine Tüte Tee lagen auf der Höhe seines Kopfes. Das Zelt selbst war ordentlich aufgebaut und in tadellosem Zustand. Kein Schnee war durch das Innenfutter gedrungen, und ihre ganze Ausrüstung fein säuberlich verstaut – Kännchen, Ersatzkleidung, Chronometer, Schuhe aus Rentierfell, Socken und eine Fahne sowie weitere Briefe, und, rührenderweise, die »geschwätzigen kleinen Notizen« 8 , die die Hilfsgruppen auf ihrer Rückkehr nach Cape Evans für Scott zurückgelassen hatten. Es fanden sich auch detaillierte Aufzeichnungen. Trotz aller Hindernisse und Entbehrungen hatte Bowers bis wenige Tage vor ihrem Tod gewissenhaft ein Buch mit Wetterdaten geführt.
Scott hatte auf dem Einband seines Tagebuchs Anweisungen hinterlassen, dass der Finder es lesen und nach Hause bringen sollte. Atkinson las, bis er wusste, was der Pol-Gruppe widerfahren war. Dann versammelte er seine Kameraden um sich und las ihnen Scotts »Botschaft an die Öffentlichkeit« und den Bericht über Oates’ Tod vor, den bekanntzumachen Scott ausdrücklich gebeten hatte.
Ihre Leichen fortzutragen erschien ihnen wie ein Sakrileg; denn während der Monate, die sie unter ihrem Schneebaldachin gelegen hatten, waren sie mit der weißen und feindseligen Welt, in die sie eingedrungen waren, eins geworden. Deshalb wurden nur die Bambusstangen ihres Zeltes entfernt, und sie ließen das Zelt über ihnen zusammenfallen. Die Männer schichteten dann einen Steinhaufen auf, richteten darüber ein von Lashly aus Grans Skiern zusammengebautes Kreuz auf, und Atkinson las einige Stellen aus den Korintherbriefen und andere Totengebete vor. Cherry-Garrard war tief bewegt und hinterließ uns eine Schilderung, die in ihrer Erhabenheit an die Artussage erinnert:
»Ich weiß nicht, wie lange wir uns dort aufhielten, aber als alles zu Ende und das Kapitel aus dem Korintherbrief verlesen war, war es Mitternacht ... Die Sonne stand tief über dem Pol, das Ross-Schelfeis lag fast im Schatten. Und der Himmel schillerte ... von übereinander getürmten irisierenden Wolken. Der Steinhaufen und das Kreuz hoben sich düster vor einer Pracht aus poliertem Gold ab.«
Atkinson zollte ihnen seinen eigenen Tribut: »Dort nun werden sie in ihrer Größe ruhen, unverändert und unverwest, das angemessenste Grabmal der Welt über sich.« 9
Nach einer grauenvollen, unheimlichen Nacht versuchten sie vergeblich, Oates’ Leiche aufzufinden. Doch es wurde nur sein Schlafsack gefunden mit dem langen Schlitz an der Vorderseite, den er selbst angebracht hatte, damit er sich während des Schlafs die erfrorenen Füße eiskalt halten konnte, um sich so die Qual des Auftauens zu ersparen. Die Gruppe errichtete einen Steinhaufen für ihn an der Stelle, wo er hinaus- und seinem Tod entgegengegangen war, und hinterließen eine Botschaft, in der festgehalten wurde, wie dieser »überaus tapfere Gentleman« sich für seine Kameraden aufgeopfert hatte. Die Suchmannschaft machte sich dann auf den Rückweg, immer noch wie betäubt von dem Schrecken ihrer
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