In den eisigen Tod
Naturwissenschaften und die medizinischen Prüfungen vorzubereiten. Als hätte er vorausgeahnt, welche Rolle er auf den Antarktisexpeditionen spielen sollte, fand er sich oft als Vermittler zwischen den ungestümen und schwierigen Studenten seines Jahrgangs wieder. Die Folge war, dass er wenig Zeit für sich selbst hatte, obschon er, trotz seiner Zuneigung zu seinen Freunden, die Einsamkeit liebte. Was er wirklich verabscheute, war »die Gesellschaft«, und zeit seines Lebens gingen ihm feierliche Anlässe, Partys mit unbekannten Leuten, das nichtssagende Gerede auf Feten und Empfängen auf die Nerven, und seine strahlenden blauen Augen verrieten dann Panik. Bisweilen musste er Beruhigungsmittel nehmen, um die Tortur zu ertragen. Tatsächlich war er immer bestrebt, seine Schwächen zu meistern und Selbstbeherrschung zu üben, ja, bis zur Selbstdemütigung zu gehen. Wie sein Biograph George Seaver es ausdrückte: »Er ergriff ungewöhnliche Maßnahmen, um sich mit der Erfahrung des Schmerzes vertraut zu machen, und machte sich mit Entschiedenheit die christliche Askese [zum] Ideal.« 9 Doch trotz dieser strengen Seite seines Charakters war Wilson auch ein großer Spieler, und er stand, stocknüchtern, immer dort im Mittelpunkt, wo es hoch her ging. Er setzte sich unbekümmert über weniger wichtige Vorschriften hinweg, was dazu führte, dass er für einige Tage relegiert wurde, nachdem er sich eines Morgens aus dem College geschlichen hatte, um eine Forelle zu fangen.
Wilson machte 1894 seinen Bachelor und gab 1895 das auf, was er seine akademische Schmetterlingsexistenz nannte, um ans St. George’s Hospital in London zu gehen. Er stürzte sich auf seine Arbeit, aber alles versetzte ihn in Aufregung, vor allem London, wo er sich, wie er sagte, wie eine Sodaflasche in einem Ofen vorkam – begeistert von seinem neuen Leben und bereit zu explodieren. Er war immer noch gern in der freien Natur und legte sich mit Semmel- und Schokoladenproviant im Wimbledon Common auf die Lauer, um den Nachtigallen zuzuhören. Er verbrachte soviel Zeit wie möglich mit der Arbeit an der Caius College Mission in den Slums von Battersea, nur um sich dort mit Tuberkulose anzustecken. Zur Erholung wurde er in die Schweiz und nach Norwegen geschickt und war so schwach, dass einer seiner Mitpatienten später meinte, die Tatsache, dass Wilson es bis zum Südpol geschafft habe, sei das größte aller Wunder gewesen. Er galt noch nicht einmal als stark genug zum Schlittenfahren. Komischerweise beweisen seine Briefe, dass ihm die Kälte zuwider war: »Grässlich, grässlich, ich kann den Schnee nicht ausstehen!« 10
Wilson verlobte sich im Oktober 1899 mit einer besonnenen und gebildeten jungen Frau, Oriana Souper, und promovierte im darauf folgenden Jahr in Medizin. Etwa um diese Zeit erfuhr er, dass für die National Antarctic Expedition ein jüngerer Marinearzt und Zoologe gesucht wurde. Seine angeborene Bescheidenheit hielt ihn von einer Bewerbung ab, obwohl er brennend interessiert war. 1897 hatte er Nansen über die Arktis sprechen hören und war von seinem Bericht darüber tief bewegt gewesen, dass die Hunde der Expedition erschossen werden mussten. Zu seinem Glück nahm sein Onkel, Sir Charles Wilson, Einfluss auf Markham, der sich von Wilsons beträchtlichem künstlerischen Talent beeindruckt zeigte. Scott traf sofort mit ihm zusammen und akzeptierte ihn auf der Stelle, obwohl er seinen Arm in einer Schlinge trug. Bei seiner nachfolgenden Befragung durch den Gesundheitsausschuss gab er mit der für ihn typischen Aufrichtigkeit zu, dass er Tuberkulose gehabt hatte, und, wie vorherzusehen war, lehnte der Ausschuss ihn ab. Aber jetzt bestand Scott darauf, dass er an der Expedition teilnahm. Wilson verfügte nicht nur über eine seltene Kombination von medizinischen und künstlerischen Fertigkeiten, sondern auch über etwas weniger Fassbares, was auf Scott anziehend wirkte.
In vielerlei Hinsicht war Wilson das glatte Gegenteil von Scott – optimistisch und umgänglich, während Scott pessimistisch und reserviert war; tolerant, während Scott ungeduldig und kritisch sein konnte; fröhlich, während Scott aufbrausend und launisch war. Er glaubte auch, dass die Dinge sich am Ende stets in die Richtung entwickelten, für die sie bestimmt waren – die Folge eines tiefen und tröstlichen Glaubens. Seine Einstellung war, für den Tag zu leben und sich keine Sorgen um die Zukunft zu machen. Er schrieb: »Es ist keine Sünde, sich nach dem Tod zu
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