In den eisigen Tod
einen wirklichen antarktischen Blizzard, der oft eher durch den Wind verursacht wird, der die Schneekristalle vom Boden hochpeitscht, als durch fallenden Neuschnee. Sie gerieten ins Rutschen, kämpften auf dem spiegelglatten Eis um Halt, und plötzlich sahen sie unter ihren Füßen einen Steilabfall und darunter die offene See. Es gelang ihnen, zum Stehen zu kommen – mit einer Ausnahme. Der Vollmatrose George Vince, ein zuvorkommender und fröhlicher Geselle, konnte keinen Halt auf dem Eis finden, weil er Pelzschuhe trug. Was folgte, dauerte nur eine Sekunde. Noch ehe seine von Entsetzen gepackten Kameraden überhaupt Zeit hatten zu reagieren, schlitterte Vince rasend schnell an ihnen vorbei und verschwand. Als die Nachricht von der Tragödie am Schiff anlangte, ertönte die Sirene, und Shackleton fuhr in einem Walfänger hinaus, um einsam und verlassen zwischen den Eisschollen nach Vince zu suchen, aber alle wussten, dass er tot war.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft im McMurdo Sound hatte ihre neue Umgebung bewiesen, dass unter ihrer Schönheit die Tücke lauerte. Der Verlust, den ihre kleine Gemeinschaft erlitten hatte, überreizte einige der Männer so, dass sie glaubten, sie könnten eine Gestalt den Hang hinunterklettern sehen, nur um dann festzustellen, dass es sich um eine Täuschung handelte. Der Vorfall brachte die Wirklichkeit zurück in das, was bis jetzt wie ein Abenteuer aus einem Jungenbuch gewesen war. Er brachte ihnen aber auch zu Bewusstsein, wie isoliert sie waren. Es gab keine Möglichkeit, der Außenwelt die Nachricht zu übermitteln. Und es wurde immer noch ein weiteres Mitglied der Gruppe vermisst. Die Erleichterung, um nicht zu sagen das Erstaunen, war groß, als man Clarence Hare, den Steward, den sie ebenfalls für tot gehalten hatten, den Hang heruntergehen und auf das Schiff zu taumeln sah, nachdem er die letzten 48 Stunden in Wind und Schnee verbracht hatte. Er hatte nicht einmal Erfrierungen erlitten und war stark genug, um sich bei Wilson, seinem Arzt, darüber zu beschweren, dass er Krankenkost vorgesetzt bekam.
Vinces Tod war schon der zweite, seitdem die Discovery 1901 in England abgefahren hatte. Als sie auf ihrem Weg nach Süden den neuseeländischen Hafen von Lyttelton verlassen hatte, war ein junger Matrose, Charles Bonner, in seiner Aufregung mit einer Flasche Whisky auf die Spitze des Großmasts geklettert, um zum Abschied zu winken, hatte das Gleichgewicht verloren und war auf das Deck gestürzt. Scott gingen diese Todesfälle sehr nahe, und er muss über seine Verantwortung gegrübelt haben. Vinces Tod schrieb er dem Mangel an Erfahrung der Expedition zu und schickte einem der Kapitel in The Voyage of the › Discovery‹ Shakespeares Worte voran: »Man müsste denn Erfahrung ein Kleinod nennen, die habe ich mir zu unerhörtem Preise erstanden.« Tief in seinem Inneren machte es Scott von Anfang an zu schaffen, dass er und seine Mannschaft nur Amateure waren. Er mochte über die Marine und darüber Bescheid wissen, wie man ein Schiff führt, aber er war kein erfahrener Forschungsreisender.
Die Gemeinschaft war jetzt mit den zahlreichen Aufgaben befasst, die erledigt werden mussten, bevor die Sonne zum letzten Mal untergehen würde. Es gab eine Menge zu tun. Die Hunde kämpften plötzlich und schrecklich wild ohne einen offensichtlichen Grund miteinander, nachdem sie ihre Herren in ein falsches Gefühl der Sicherheit gewiegt hatten: »So eine Hundemoral!«, schrieb Scott. Nach und nach lernten er und seine Kameraden, dass ein Hund dann, wenn man ihm einen besonderen Gefallen erwies oder ihn vom Rest der Meute trennte, sofort von den übrigen verdächtigt wurde. Doch trotz dieser Einsichten blieb Scott aufrichtig schockiert über ihr Verhalten und sprach von »Mördern« und »Opfern« und fand die Hundeseele völlig unergründlich.
Mitte März kehrten Royds und seine Begleiter unversehrt von ihrer Schlittenexkursion zurück und wurden über Vinces Tod informiert. Sie brachten Geschichten über ihre eigenen Entbehrungen mit, über ihre Schwierigkeiten, mit den Hunden zurechtzukommen, über extreme Wetterverhältnisse und grauenhafte, alles verschlingende Schneestürme, über Krämpfe und Erfrierungen und die Unzulänglichkeit ihrer Schlafanzüge, die aus dünnem Wolfsfell genäht waren. Sie hatten umkehren müssen, bevor sie Cape Crozier erreicht hatten.
Jetzt machte man sich Sorgen darüber, was der richtige Winter bringen würde. Sie befanden sich fast 930 Kilometer
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