In den Fesseln des Wikingers
daran. Wenn er sie jetzt schon mit Gewalt nahm, dann würde er auch ihre Verachtung und ihre Wut ertragen müssen. „Was immer du auch tust, Wikinger“, sagte sie hasserfüllt, „der Zorn der Göttin wird dir folgen bis an das Ende deines Lebens!“
Er stieß ein tiefes Lachen aus, das in ihren Ohren etwas vom Grollen eines Bären hatte. „Ich fürchte deine Göttin nicht!“
Er schob sie ein wenig von sich ab, um sie mit dem Blick des Besitzers von oben bis unten zu messen, dann riss er sie mit festem Ruck zu sich heran und bog ihr die Arme auf den Rücken. Während er ihre Handgelenke mit einem ledernen Riemen zusammenband, presste er ihren Körper eng an sich, und sie spürte erschauernd seine harte Brust und das Spiel seiner Schultermuskulatur. Er roch nach Leder und nach salzigem Meerwasser, nach seiner schweißigen Haut und nach etwas anderem, das sie nicht deuten konnte, das sie jedoch erschreckte und zugleich erregte.
Sie begriff nicht, wozu er sie fesselte, denn sie hätte ihm nur schwer davonlaufen können. Doch er knüpfte einen geflochtenen Riemen an ihre gebundenen Handgelenke, fasste sie dann grob an der Schulter und drehte sie um, so dass sie mit dem Rücken zu ihm stand.
„Geh voran, Hexe“, knurrte er und gab ihr einen unsanften Stoß. „Immer schön in die Richtung, die ich dir befehle. Und denke ja nicht, du könntest mir entkommen, denn ich führe dich an der Leine wie ein Hündchen.“
***
Panik erfasste sie. Sie hatten ihn in einer Grube gefangen und verhöhnt, sie hatten ihm sein Messer genommen und ihn gezwungen, bis zum Morgen völlig nackt in dem Erdloch zu verharren. Es war ganz offensichtlich, dass er sich eine besondere Rache für die erlittene Schmach ausgedacht hatte.
„Wohin gehen wir?“
„Das wirst du schon sehen!“
Wollte er sie zu seinen Kumpanen schleppen, damit sie alle, einer nach dem anderen, über sie herfielen? Eine Reihe erschreckender Vorstellungen schoss ihr durch den Kopf, während sie vor ihm herstolperte und sich bemühte, so langsam und ungeschickt wie möglich zu laufen.
Wollte er sie als Sklavin verkaufen, wie die Wikinger es häufig mit ihren Gefangenen taten? Sie auf dem Markt zur Schau stellen – oh, sie hatte davon gehört, dass die Wikingerhändler ihre Sklavinnen vor den Kunden nahmen, um zu beweisen, dass die schönen Weiber ihren Preis wert waren.
Was auch immer er mit ihr vorhatte – sie durfte sich jetzt auf keinen Fall von ihrer Angst lähmen lassen. Noch war sie nicht im Lager der Wikinger, noch konnte sie hoffen, ihm zu entkommen. Sie versuchte, die Göttin herbeizurufen, doch das Quellheiligtum war schon weit hinter ihnen, und Sirona schien sie nicht zu hören. Also würde sie es mit einer List versuchen – hatte sie nicht selbst behauptet, der Verstand dieses Wikingers sei nicht größer als eine Nuss?
„Ich kann nicht mehr laufen“, stöhnte sie.
„Eben konntest du noch springen wie ein Reh!“
„Die Zweige hindern mich, ich kann sie nicht zurückbiegen.“
Das war die Wahrheit, denn ihre Arme waren auf den Rücken gebunden. Auch zerkratzten ihr die Äste das Gesicht, und ihr langes Haar blieb an ihnen hängen. Der Wikinger schwieg und schob sie weiter voran. Als sich ihr Haar jedoch so fest in einem herabhängenden Zweig verfing, dass sie stehen bleiben musste, zog er ärgerlich seinen Dolch und zerschnitt die Fesseln um ihre Handgelenke.
„Nimm dich in Acht, Hexe“, warnte er sie. „Wenn du versuchst davonzulaufen, werde ich nicht sanft mit dir umgehen.“
Sie jubelte innerlich, denn er war tatsächlich ziemlich dumm. Genauso gut hätte er ihr Haar abschneiden können, doch er hatte ihre Fesseln gelöst. Jetzt musste sie nur auf eine gute Gelegenheit zur Flucht warten, und sie hoffte inständig, dass die Göttin ihr dieses Mal beistehen würde.
Die Chance bot sich rascher als erwartet, jedoch war es zweifelhaft, ob Sirona ihre Hand dabei im Spiel hatte. Sie waren nur wenige Schritte gegangen, da blieb Rodena erschrocken stehen.
„Was ist nun schon wieder?“, knurrte Thore unwillig.
„Sei still“, flüsterte sie. „Riechst du es nicht?“
Er prüfte die Luft, dann begriff er, was sie meinte, und sie spürte, wie sein Arm sich um ihre Taille legte. Ein Scharren und Kratzen war jetzt zu hören, jemand riss die Rinde in großen Fetzen von einem Stamm. Der Duft des Bären war streng, er roch nach Angst, die jederzeit in Wut umschlagen konnte.
„Beweg dich nicht!“, hauchte der Wikinger Rodena ins Ohr.
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