In den Fesseln des Wikingers
„Es muss der Bursche sein, den meine Leute heute Nacht aus dem Lager vertrieben haben. Sie haben ihn mit einem Pfeil verletzt.“
Der Bär schien sie gewittert haben, denn gleich darauf knackte es im Buschwerk, und sie erblickten die spitze Schnauze des Tieres und seinen breiten, dicht behaarten Nacken. Rodena erkannte ihn, es war ein altes Tier, einmal hatte er versucht, in die Vorratskammer der beiden Frauen einzudringen, doch als es ihm nicht gelungen war, hatte er sich friedlich wieder davongemacht. Jetzt allerdings war er völlig verändert, er stieß er ein tiefes, warnendes Grollen aus, und anstatt vor den Menschen zurückzuweichen, näherte er sich in eiligem Trott. Nur wenige Schritte von ihnen entfernt, richtete er sich auf die Hinterbeine auf, und Rodena starrte in die wilden, verzweifelten Augen des Tieres.
In diesem Augenblick wurde sie mit einem festen Ruck zur Seite geschleudert, sie stürzte auf einen Baumstumpf, und für einen Moment nahm sie nichts anderes wahr als den Schmerz an ihrer Schulter. Dann hörte sie ein lautes, zorniges Brüllen, das den ganzen Wald zu erfüllen schien, und als sie den Kopf hob, sah sie die große Gestalt des Wikingers, der dem Bären mit gezogenem Dolch gegenüberstand.
Er ist verloren, fuhr es ihr durch den Sinn. Kein Mann, und sei er noch so stark, kann nur mit einem Dolch bewaffnet einen wütenden Bären bezwingen.
Im gleichen Augenblick begriff sie, dass sie frei war, und sie raffte sich mit zitternden Gliedern auf, um davonzulaufen. Ihre Flucht war hastig und atemlos, und obgleich sie den Wald seit ihrer Kindheit kannte, wusste sie kaum mehr, wo sie sich befand. Mehrfach geriet sie so tief ins Dickicht, dass sie umkehren musste, um einen anderen Durchgang zu suchen, dann wieder störte sie ein Rudel Rehe auf, die in einer Senke grasten. Schließlich kauerte sie sich völlig erschöpft zwischen die breiten Wurzeln einer uralten Eiche und verharrte dort bewegungslos, in der Hoffnung, in diesem Versteck sicher zu sein.
Sicher? Vor wem eigentlich? Vor dem Bären? Der hatte längst ihre Spur verloren. Der Wikinger Thore Eishammer aber war tot, von dem wütenden Raubtier zerrissen. Hatte sie es nicht vorausgesehen, dass er sterben würde? Kira hatte recht damit gehabt, dass ein Krieger, dessen Verstand klein war, nicht lange leben würde. Dieser Dummkopf hatte einen wütenden Bären mit nichts als einem Dolch angegriffen.
Sie umfasste ihre Knie mit den Armen und kauerte sich noch enger zusammen, denn ein Zittern durchlief sie. Wäre er klug gewesen, dann wäre er davongelaufen und hätte sie, Rodena, dem wütenden Tier überlassen. Doch er hatte sich dem Bären gestellt, um sie zu schützen. Er war vielleicht dumm, aber ein Feigling war er nicht.
Das Zittern wollte nicht vergehen, sie bebte am ganzen Körper, und ohne dass sie es verhindern konnte, begann sie zu schluchzen.
Die Göttin hatte ihr geholfen. Die Göttin war gerecht und strafte denjenigen, der einer Druidin Gewalt antat. Und doch hätte sie ihn ja nicht gleich töten müssen. Es hätte doch gereicht, ihn nur kampfunfähig zu machen. Er hätte sich beim Sturz über eine Wurzel ein Bein brechen können, sie hätte ihn auch gern in ein Sumpfloch stoßen können, den verdammten Kerl. Aber er war tot, von dem Raubtier zerfleischt, und die Vögel würden seinen Leichnam fressen. So, wie sie es in ihrem Wachtraum gesehen hatte.
Sie hätte jetzt aufstehen müssen, sich die Umgebung genau betrachten, um herauszufinden, wo sie sich befand und wie sie wieder zurück zum Quellheiligtum kam. Wenn ihre Mutter zurückkehrte und sie nicht antraf, dafür aber den leeren Korb in der Nähe der Quelle entdeckte, würde sie sich Sorgen machen und nach ihr suchen. Wieso konnte sie nicht aufhören zu weinen? Sie war doch sonst nicht so empfindlich. Hatte sie damals geweint, als die Männer aus den Dörfern versuchten, die Druidinnen mit Fackeln und Knüppeln zu vertreiben? Ganz im Gegenteil, sie war außer sich vor Zorn gewesen und hatte sich mutig verteidigt. Jetzt aber rannen ihr unaufhörlich die Tränen hinunter, und auch das scheußliche Zittern, das ihre Glieder wie ein Krampf befallen hatte, wollte nicht vergehen.
Sie hörte die warnenden Rufe des Hähers nicht, bemerkte nicht einmal, dass zwei kleine Waldmäuse blitzschnell in einem Erdloch zwischen den Wurzeln verschwanden. Erst als sie die Berührung an ihrem Rücken spürte, schrie sie laut auf und fuhr herum.
„Ein Wikinger gibt nicht so schnell auf,
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