In den Fesseln des Wikingers
mit diesem letzten Blick sagen wollen, dass sie ihm etwas bedeutete? Dass sein Herz an ihr hing?
Sie wehrte sich gegen die aufkommende Verzweiflung. Sein Herz? Dieser Mann bestand aus Muskeln und Sehnen, die von einem harten, grausamen Willen zusammengehalten wurden. Wie kam sie auf die Idee, Thore, der Wikinger, könne ein Herz haben?
Du einfältiges Huhn, dachte sie. Er ist wütend auf mich, denn ich hatte recht mit meiner Warnung, und er hat sie in den Wind geschlagen. Der stolze Wikinger kann nicht ertragen, dass ein Weib klüger war als er selbst, deshalb hat er mich mit seinem Blick durchbohrt.
Das sah ihm ähnlich, diesem starrsinnigen Kerl!
Sie entspannte sich, denn die Vorstellung, dass er wütend auf sie war, ertrug sich leichter als der Gedanke, Thore könne Gefühle haben.
Die Alte hatte den Rauchabzug mit einer langen Holzstange geöffnet und machte sich an der Feuerstelle zu schaffen. Während das schreckliche Geschehen draußen auf dem Burghof seinen Fortgang nahm, das Zischen und Grölen, die hämischen Beschimpfungen und die Schmerzenslaute der Gefolterten auf- und abebbten, setzte sie seelenruhig einen Dreibein auf das flackernde Feuer und erhitzte einen Topf mit Wasser.
„Die hat es gut“, seufzte Papia, die sich eng in den Mantel eingewickelt hatte und neben Rodena auf der Bank hockte. „Sie hört das alles nicht.“
Rodena hatte Schweißperlen auf der Stirn, sie starrte in die roten Flämmchen der Feuerstelle und versuchte, nicht mehr zu denken.
„Werden sie Ubbe auch foltern?“, fragte Papia bang.
„Ich weiß es nicht.“
„Ich wünschte, sie täten es nicht.“
Rodena nahm sich zusammen und legte den Arm um das Mädchen. Es hatte keinen Sinn, sich der Verzweiflung hinzugeben, sie musste nach vorn schauen. Was auch geschah, sie war für die Kleine verantwortlich und musste versuchen, sie heil und unversehrt zu ihrer Tante zu bringen.
„Hör zu, Papia“, sagte sie eindringlich. „Du darfst Alains Leuten auf keinen Fall zeigen, dass du Mitleid mit Ubbe hast. Hast du das verstanden?“
Papia blinzelte verwirrt, dann jedoch hatte sie begriffen. „Weil sie sonst glauben könnten, ich sei seine … seine ... Freundin?“
„Kluges Kind“, lobte Rodena. „Was immer mit Ubbe und den anderen geschieht, sie haben es selbst heraufbeschworen. Wir können es nicht ändern und müssen an uns selbst denken.“
„Ja ...“
In Papias blauen Augen sammelten sich Tränen, doch sie schluckte tapfer und wischte sich mit einem Zipfel des Mantels über die feuchte Wange. Rodena seufzte. Was für ein Unglück, dass die Kleine ausgerechnet jetzt ihr Herz für diesen braunwolligen Bären entdeckt hatte. Das Mädchen war es nicht gewohnt, ihre Gefühle zu verbergen, vermutlich würde man ihr die Wahrheit leicht ansehen.
Die Alte hatte Tee gekocht, der die Hütte mit dem Duft von Melisse und Pfefferminz erfüllte. Jetzt bot sie ihren Gästen die dampfenden Becher und lächelte ihnen dabei mitleidig zu. Schweigend saßen die beiden Frauen nebeneinander, nippten an dem heißen Gebräu und lauschten mit bangen Gefühlen nach draußen. Es schien, als sei nun das Schlimmste vorüber, die schrillen Rufe erhoben sich seltener und verstummten schließlich ganz. Die Alte, die neben dem Feuer saß und schlürfend ihren Tee trank, erhob sich. War sie vielleicht doch nicht taub? Auf jeden Fall schien sie zu wissen, was sie tat, als sie die Tür öffnete und aus dem Haus trat.
Als die beiden Frauen mit klopfendem Herzen nach draußen spähten, sahen sie, dass der Platz sich weitgehend geleert hatte. Nur ein paar Knechte liefen noch zwischen den Hühnern und Schweinen herum, ein Haufen Kinder spielte mit zwei jungen Hunden, und die Mägde nutzten das Feuer inzwischen dazu, in breiten, schwarzen Kesseln eine Mahlzeit zu kochen. Von den Gefangenen war nichts mehr zu sehen, entweder hatte man sie bereits getötet, oder sie waren wieder in die Hütte getrieben worden, um später für weitere Folterungen herzuhalten.
Rodena überlegte, ob sie es wagen sollte, eine der Mägde nach dem Schicksal der Wikinger zu fragen, da sah sie zwei Krieger aus dem Turm treten. Die Männer schauten suchend über den Hof, erblickten sie und Papia am Türeingang des Häuschens und stiegen den Hügel hinab.
„Der König befiehlt euch in den Turm!“
Es klang nicht gerade wie eine freundliche Einladung, sondern eher wie die Aufforderung zu einem Verhör, und Rodena warf Papia noch rasch einen warnenden Blick zu, sich ja nicht
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