In den Häusern der Barbaren
hingebracht?« Maureen sprach die Frage mehrmals laut aus, während sie vom Jungenzimmer ins Medienzimmer und wieder in die Küche lief, Samantha auf der Schulter, deren Mittagsschlaf nun schon seit zwei Stunden überfällig war. Das ist für sie jetzt gar nicht die richtige Zeit zum Einschlafen. Sie wird am Abend viel zu lange wach sein. Sie merkt, dass irgendwas nicht stimmt; sie spürt die Panik ihrer Eltern.
Im Kopf ging Maureen durch, was sie über Araceli wusste, um vielleicht auf eine Information oder einen Namen zu stoßen, der ihr weiterhelfen konnte. Die Frau, von der Maureen damals Aracelis Namen bekommen hatte, war seit drei Jahren in Südamerika, in São Paolo, und arbeitete dort für ein amerikanisches Unternehmen; Maureen hatte keine Telefonnummer von ihr. Araceli stammte aus Mexiko City, wenn Maureen sich recht erinnerte. Sie musste ein wenig nachdenken, um auf ihren Nachnamen zu kommen: Ramirez, was sich kurz darauf bestätigte, als Scott in Aracelis Schlafzimmer einen Stapel an sie adressierter Postkarten fand, außerdem ihr Sparbuch, das Scott vor vier Jahren für sie angelegt hatte. Auch im Sparbuch stand der Nachname Ramirez, aber natürlich nur die Adresse der Torres-Thompsons. »Wir haben ihren vollständigen Namen, aber mehr auch nicht. Was wissen wir sonst noch?« Maureen hatte keine Ahnung, wie Aracelis Eltern heißen könnten. Wie viele Menschen lebten in Mexiko City? Zehn Millionen? Zwanzig? Und wie viele Ramirez’ gab es wohl in so einer Metropole? Die ständig selben Nachnamen boten den Mexikanern eine Art Anonymität. Sie heißen alle Ramirez oder Garcia oder Sanchez.
»Was glaubst du, wo sie an den Wochenenden hinfährt?«, fragte Maureen.
»Ich glaube, nach Santa Ana, hat sie gesagt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das mal von ihr gehört habe.«
Scott beschloss, die alten Telefonrechnungen durchzugehen und zu schauen, ob sich eine unbekannte Nummer fand. Er kehrte mit einem Papierstapel aus seinem Arbeitszimmer zurück und fing an, sie durchzusehen, merkte aber rasch, dass er nichts fand. »Ich habe mal gesehen, dass sie mit so einer Guthabenkarte nach Mexiko telefoniert«, sagte er. »Und Santa Ana ist ein Ortsgespräch.« Die Vorwahlen der gebührenfreien Ferngespräche hinterließen auf der Rechnung keine Spuren, und genau das hatte Araceli auch beabsichtigt – sie wollte den Torres-Thompsons kein Geld für ihre Telefongespräche schulden und fand, dass die Einzelheiten ihres mexikanischen Lebens ohnehin allein ihre Sache waren: Die brauchte kein anderer zu sehen, zu beurteilen, zu belächeln. Araceli war »sehr zurückhaltend«, wie Maureen sich ihren Freunden gegenüber ausdrückte, und bis jetzt hatte sie das auch nicht gestört, weil sie diese Charaktereigenschaften mit Aracelis effizienter und ernsthafter Arbeitseinstellung in Verbindung gebracht hatte. Vor Araceli hatten die Torres-Thompsons ein Jahr lang eine guatemaltekische Haushälterin gehabt, Lourdes, die ihnen ständig von ihrer Tochter vorjammerte, die sie hatte zurücklassen müssen. Nach einem tränenreichen Monolog auf Brandons siebter Geburtstagsfeier, ausgelöst durch den Anblick der vielen Kinder im Alter ihrer Tochter, hatte Maureen beschlossen, sie zu entlassen. Und an ihre Stelle war Madame Seltsam getreten, die kinderlose Frau aus Mexiko City. Ich habe diese Frau vier Jahre in meinem Haus leben lassen, ohne auch nur ein tiefer gehendes Gespräch mit ihr zu führen, über ihre Familie, darüber, wie sie hergekommen ist. Ich habe diesem lebenden Rätsel erlaubt, von einem Zimmer meines Hauses zum nächsten zu schweben, den Staubsauger zu schieben oder den Wischmopp zu schwingen, während sie mit dem Blick oft ganz woanders war. Ich habe das alles so laufen lassen und meine Söhne in Gefahr gebracht, weil ich im Gegenzug ihr tolles Hühnchen in Tomaten-Bananen-Soße bekommen habe und weil wir die Leidenschaft für die reinigende Kraft von Chlor teilen.
Da Maureen nichts über Aracelis Leben jenseits des Paseo Linda Bonita wusste, hatte sie auch keine Grundlage für Vermutungen darüber, wohin die Mexikanerin Brandon und Keenan geschafft haben könnte. »Wo ist sie hin? Was stellt sie mit ihnen an ?« Wenn Scott recht hatte und sie seit mindestens zwei Tagen nicht mehr in diesem Haus gewesen waren, dann wurde die Lage noch unerklärlicher: Wieso sollte eine Frau, die sich so wenig für ihre Söhne interessierte, plötzlich einen Übernachtungsausflug mit ihnen unternehmen? Als das Licht im Fenster
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