Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
Vom Netzwerk:
von weiß zu gelblich alterte und die Schatten der Kakteen länger wurden, während gleichzeitig die Erinnerung an und das schlechte Gewissen über ihre eigene lange Abwesenheit sich abschwächten, wurden Maureens Gedanken allmählich düster und argwöhnisch. Wenige Minuten vor Sonnenuntergang erklärte sie schließlich:
    »Ich glaube, wir müssen die Polizei rufen.«

15 Nicht lange nachdem der Lynchmob sich aufgelöst hatte, steckte Keenan den Daumen in den Mund, wanderte in den Garten und ließ sich auf eine Liege fallen. Dort fand ihn Araceli und sah ein, dass die Jungen ins Bett mussten. Sie wandte sich an Lucía, die ihr sofort ihr eigenes Schlafzimmer anbot: »Ich bleibe sowieso lange weg.« Die Jungen könnten in ihrem Bett schlafen, Araceli im Schlafsack auf dem Boden, sagte sie, und bald dösten die Jungen unter einem Poster von Frederick Douglass, einem Zeitschriftenfoto eines sehr jungen spanischen Matadors und dem orange-silbernen Quast von Lucías Highschool-Examensbarett. Auch Araceli schlief rasch ein, während sie das Bild des Stierkämpfers im schwachen Licht der Straßenlampe betrachtete, das durch Lucías Sonnenblumenvorhänge drang. Sie überlegte, wie ihr gordito Felipe wohl in der engen Stierkämpferhose aussähe: sehr wahrscheinlich zum Lachen. Sie fragte sich, ob er während ihrer Abwesenheit wohl anzurufen versucht hatte.
    »Meine Kinder sind verschwunden. Meine beiden Söhne.«
    »Wie ist Ihr Name?«
    »Maureen Thompson.«
    »Und Sie sind ihre Mutter?«
    »Ja.«
    »Rufen Sie von zu Haus aus an?«
    »Ja.«
    Maureen hatte am Küchentelefon 911 gewählt, und es hatte sich eine Frauenstimme gemeldet, die nun dem leidenschaftslosen Protokoll der Notrufannahme folgte.
    »Wie heißen die Kinder?«
    »Brandon und Keenan. Torres. Torres-Thompson.«
    »Wie alt sind sie?«
    »Brandon ist elf. Keenan ist acht.«
    »Und wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
    »Gestern«, sagte Maureen rasch.
    »Gestern?«
    Maureen stockte bei der verwunderten Nachfrage der Telefonistin, und in der kurzen Stille hörte sie im Hintergrund einen Raum voller Stimmen. »Nein, nein, ich meine vorgestern.«
    »Sonntag?«
    »Ja, Sonntagmorgen.« Maureen brachte es nicht über sich, von vier Tagen zu sprechen. Wäre sie nicht so in Panik gewesen, hätte sie sich die ganze komplizierte Wahrheit von der Seele geredet. Doch es hätte einen sehr ruhigen, rationalen Geisteszustand gebraucht, um einer Fremden auseinanderzusetzen, wie eine Mutter und ein Vater ihre Kinder vier Tage lang allein lassen konnten und wie das alles auf einen verdorrenden Garten und einen Streit im Wohnzimmer zurückzuführen war. »Mein Mann und ich. Wir sind in ein Wellnesshotel gefahren.« Sie schaute zu Scott auf, der den Kopf schüttelte, doch das bestärkte nur ihre Überzeugung, dass eine Erklärung des Wohnzimmerstreits und der folgenden Geschehnisse nur die Suche nach ihren Söhnen verzögern würde. Jetzt ist nicht die Zeit, unsere kleine Episode mit dem Couchtisch wieder aufzuwärmen. Und was spielte der Streit überhaupt für eine Rolle? Wichtig war doch, die Jungen wiederzufinden und in ihr sicheres Heim zurückzubringen. »Wir haben sie bei unserer Haushälterin gelassen. Am Sonntag. Bei ihrem Kindermädchen.« Zwei Pieptöne kündigten automatisch an, dass ihr Gespräch aufgenommen wurde. »Wir haben ihr gesagt, wir würden heute früh zurückkommen, aber wir haben uns ein bisschen verspätet. Und jetzt warten wir schon den ganzen Tag, dass sie mit den Kindern wiederkommt. Wir wissen nicht, wo sie ist.«
    »Wir?«
    »Mein Mann und ich.«
    »Ist er bei Ihnen?«
    »Ja.«
    »Und sein Name?«
    »Scott Torres.«
    Im Notrufzentrum von Orange County wog die Telefonistin die Optionen ab, die vor ihr auf dem Bildschirm erschienen. Sie musste die Dringlichkeit der unzähligen Dramen, die Tag für Tag in ihr Ohr geflüstert oder geschrien wurden, in Kategorien einteilen. Da sie bereits notiert hatte, dass die Kinder von einer anerkannten Erziehungsberechtigten (dem Kindermädchen) begleitet wurden und dass der übliche Täter in Fällen vermisster Kinder (der Vater) anwesend war, kam sie zum zutreffenden Schluss, dass es sich wahrscheinlich nicht um eine Entführung handelte, bei der die Kinder in unmittelbarer Gefahr schwebten, sondern eher um einen Kommunikationsfehler im Haushalt. Die Anruferin log offensichtlich über den Zeitpunkt, zu dem sie ihre Söhne zuletzt gesehen hatte. Sie will sicher, dass wir schneller aktiv werden , dachte die

Weitere Kostenlose Bücher