Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
Vom Netzwerk:
auch«, sagte Olivia Garza. »An der Universität habe ich auch ein paar Seminare Lesen belegt, allerdings heißt es da nicht Lesen. Sondern Literatur.« Die Sozialarbeiterin zählte einige ihrer Lieblingsbücher auf, darunter eine dreizehnbändige Serie über die phantastischen Missgeschicke dreier Geschwister, die immer ihre optimistisch-unschuldige Einstellung bewahren, obwohl sie als Waisen durch eine grausame Erwachsenenwelt ziehen.
    »Die habe ich alle zweimal gelesen«, sagte Brandon. »Die sind echt witzig.«
    Mit Kindern zu reden war das Allerschwierigste überhaupt, und das Ziel solcher »Interviews« lag weniger darin, an die nötigen Informationen zu kommen, das hatte Olivia Garza längst begriffen, sondern eher im Austesten der Stimmungen und Ängste der Betreffenden, einer vorsichtigen Prüfung ihres Charakters. Auf ihr geübtes Auge machten die Jungen einen guten Eindruck: Sie zeigten intellektuelle Neugier und einen Hauch jener Einsamkeit, der in so wohlhabenden Familien völlig normal war. Und vielleicht auch schon ein wenig vorpubertären Überdruss beim Älteren. Falls die Flucht ihrer Eltern und ihre Fahrt nach Los Angeles sie traumatisiert hatten, war es jedenfalls auf den ersten Blick nicht zu erkennen.
    »Und was liest du gerade?«, fragte sie Brandon. Er zeigte ihr den Umschlag des Taschenbuchs und reichte es ihr dann so, wie ein Teenager dem Schuldirektor eine Schachtel Zigaretten übergibt. »Wow, ein Klassiker. Das ist aber ziemlich fortgeschritten für dein Alter.«
    »Ich bin auch ein ziemlich guter Leser.«
    »Aber verstehst du denn alles darin?«
    »Ungefähr achtzig Prozent. Nein, neunzig. Wenn ich einen Teil nicht verstehe, dann tue ich einfach so, als ob die Worte nicht existieren.«
    »Interessant.«
    »So kann ich einfach weiterlesen.«
    »Das sollte ich mir auch mal angewöhnen.«
    »Es ist irgendwie das beste Buch, das ich je gelesen habe. Es ist so richtig echt. Daneben kommen einem alle anderen Bücher verlogen vor.«
    Olivia blätterte in dem Buch herum, als Maureen mit Samantha auf dem Arm in der Tür erschien und sich zu sehr bemühte, mütterliche Gelassenheit auszustrahlen.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie lächelnd.
    »Ja, ja. Wir haben bloß über das Buch geredet, das Brandon gerade liest. Auf welcher Seite warst du, Brandon?
    »Dreiundneunzig.«
    »Hast du was dagegen, wenn ich mir das ganz kurz ausborge? Ich bringe es dir gleich wieder, versprochen.«
    Olivia Garza verabschiedete sich von den Jungen und verließ mit Maureen das Zimmer der tausend Wunder.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Maureen noch einmal, weil sie den Eindruck hatte, dass dem nicht so war.
    Die Sozialarbeiterin hielt das Buch auf Seite dreiundneunzig aufgeschlagen und reichte es Maureen. »Ich weiß nicht, ob er für so was schon alt genug ist. Und vor allem für solche Passagen.«
    Maureen nahm das Buch – Der Fänger im Roggen –, das sie nie gelesen hatte, auch wenn sie den Namen der Hauptfigur kannte. Der dicke Zeigefinger der Sozialarbeiterin lag auf der Stelle, wo Holden Caulfield im coolen Slang der 1950er-Jahre erzählte, wie er Zigaretten rauchte und sich auf den Besuch einer Prostituierten vorbereitete: »Sie war irgendwie blond, aber man sah gleich, dass sie gefärbte Haare hatte. Trotzdem war sie keine alte Schachtel.« Ein paar Seiten weiter stritt Holden sich mit ihrem Zuhälter um Geld, und die Erzählerstimme klang nach der Lässigkeit und lockeren Moral einer längst vergangenen amerikanischen Epoche.
    »Oh mein Gott. Wieso liest er so was überhaupt? Wo hat er das her?«
    Maureen hatte das Buch in der Hand, schaute die Frau vom Jugendamt an und spürte das Gewicht ihres Urteils, das zugleich heilig und offiziell war. Ihre Scham vergrößerte sich noch, als ihr klar wurde, dass die Sozialarbeiterin den Verstoß nach nur einer Viertelstunde Unterhaltung mit ihrem Sohn entdeckt hatte. COUNTY OF ORANGE, sagte das offizielle Siegel auf ihrer Plastikkarte: die drei namensgebenden Früchte auf einem grünen Feld, das wiederum in der Mitte einer Sonne lag, umgeben von einem Kranz tanzender gelber Arme. Einen Moment lang war das Siegel genauso erschreckend wie die staubigen alten Heiligenbilder von St. Patrick in ihrem Elternhaus in Missouri, mit den Schlangen unter den Füßen und den Flammen um den Kopf. Ihr Elfjähriger verkehrte mit Huren und Zuhältern, hatte sich mithilfe der Fiktion in einen schmuddeligen Winkel Manhattans begeben, und das in ihrem eigenen Haus, in ihrer

Weitere Kostenlose Bücher