In den Häusern der Barbaren
Anwesenheit. Weil ich nicht richtig hingucke. Ich bin eigentlich gar nicht hier im Zimmer bei ihm. Jetzt kannten die Heiligen sowohl der Iren als auch des Orange County dieses Geheimnis.
»Es tut mir leid. Es tut mir so leid«, sagte Maureen nicht nur zur Sozialarbeiterin, sondern zu allen Leuten, die sie überhaupt kannte. »Ich dachte, ich hätte alles unter Kontrolle. Ich dachte, ich hätte alles im Griff.«
Unter der schönen und aufgeräumten Oberfläche um mich herum sind die Dinge nicht, wie sie sein sollten. Ich habe alles auf Hochglanz poliert, damit es nicht wie früher im Pike County aussieht, aber darunter ist alles genauso zerschlissen wie das alte Sofa in unserem Wohnzimmer, wie die ungewischten und splitternden Bodendielen. Sie kam sich dumm vor, weil sie sich ohne jeden Erfolg so sehr angestrengt hatte, und wenn sie daran dachte, wie sie in diesem Zimmer herumgewerkelt hatte, an den unterschiedlichsten Materialien, Holz, Leder, Wolle, dann fühlte sie eine traurige Leere, so als stünde sie auf einem Feldweg, der zu den Orten zurückführte, von denen sie geflohen war. »Es tut mir so leid.« Sie ließ sich auf die Couch fallen, Samantha immer noch auf der Hüfte. Sie wollte weinen, konnte aber nicht. Stattdessen saß sie da, geschlagen, und dachte über Brandons Verrat nach und dass sie nicht überrascht hätte sein dürfen, denn schließlich war er ein Mann: Und dann verbot sie sich, so etwas zu denken, denn er war erst elf Jahre alt, es war absurd. Darum werden Frauen wahnsinnig. Wir leben mit Männern zusammen, die sich wie Jungen benehmen, und mit Jungen, die gern Männer sein wollen, und wir sind gefangen zwischen dem, was wir für richtig halten, und dem wenigen, was wir ausrichten können, zwischen dem, was wir sehen können, und dem, was uns verborgen bleibt. Das ist alles so unmöglich. Sie schüttelte den Kopf und sprach das Wort murmelnd aus. »Unmöglich.«
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, sagte Olivia Garza und reichte Maureen ein Taschentuch aus dem großen Vorrat in ihrer Handtasche.
Jetzt merkte Maureen erst, dass sie Tränen in den Augen hatte. Sie wischte sich übers Gesicht und fing mit geradezu unheimlich ruhiger Stimme an zu sprechen: »Wir werden uns verändern.«
»Wie bitte?«, fragte Olivia Garza.
»Wir ziehen um. In ein kleineres Haus.«
»Maureen«, sagte Scott. Er wollte seine Frau aufhalten, bevor sie zu weit ging, denn sie ging immer zu weit.
»Wir werden unsere Kinder auf eine öffentliche Schule schicken. In einer anderen Stadt.« Das war ein notwendiges Opfer, dachte Maureen. Eine Kapitulation. Eine Niederlage. Sie würden ihren Garten Eden verlassen, und das wäre eine gerechte Strafe. »Wenn sie auf eine öffentliche Schule gehen, wenn wir in einem kleineren Haus wohnen, wie viel sparen wir dann? Zwanzig, dreißigtausend im Jahr? Nein, noch mehr. Oder?«
»Ja«, sagte Scott. Auch er fühlte sich besiegt, als er seine Frau so sah – im einen Augenblick kämpfte sie mit den Tränen, im nächsten erzählte sie einer Fremden von einem Neuanfang. Ich bin dafür verantwortlich. Wenn sie in ein paar Wochen oder Monaten in einem anderen Haus wohnten, dann würde sie zu genau diesem Schluss kommen; sie würde all ihre Worte bereuen und einen Weg finden, ihm die Schuld zu geben.
»Na, das klingt für mich doch alles sehr positiv«, sagte Olivia Garza. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wir nehmen keine Kinder weg, bloß weil die Eltern sie Salinger lesen lassen.« Sie gestattete sich ein lautes, herzliches Lachen. »Ich dachte nur, Sie sollten wissen, was er liest. Ich vermute, es ist bloß der Ton, der ihm gefällt. Er hat mir erzählt, dass er die Stellen überspringt, die er nicht versteht. Der rebellische Tonfall. Machen Sie sich bereit. Die Pubertät kommt heutzutage immer früher.«
Scott brachte sie zur Tür, und beim, wie er hoffte, letzten Handschlag zog ihn die Sozialarbeiterin näher und sprach mit leiser, heimlicher Stimme.
»Sie müssen sich keine Sorgen mehr machen.«
»Was?«
»Ich darf das eigentlich nicht sagen, aber ich sage es trotzdem: Meine Behörde wird Sie nicht weiter belästigen. Und sonst kann das auch keiner. Weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft. Niemand.«
»Wirklich nicht?«
Einen Augenblick musterte sie Scott mit ihren großen Augen und fragte sich, ob sie ihm diese Information anvertrauen konnte. »Leben Sie Ihr Leben weiter. Aber ich habe das nie gesagt. Von mir haben Sie das nicht.«
»Wir sind frei,
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