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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Proportionen zu den verschiedenen Zäunen und Barrieren blieben, und das erwies sich als schwieriger, als irgendjemand erwartet hatte. Nachdem er Turbanmann zugesehen hatte, wie er höchst unglaubwürdig mehrmals durch den Maschendrahtzaun am Kraftwerk San Onofre geschlüpft war, so als wäre er ein Superheld mit übernatürlichen Fähigkeiten, öffnete Scott geistesabwesend das NASDAQ -Fenster, denn die Aktienkurse hatten sich schon den ganzen Vormittag über außerordentlich schlecht entwickelt.
    Niemand bei Elysian Systems machte einen Hehl daraus, dass er oder sie den Computer während der Arbeitszeit dazu nutzte, den Stand der privaten Aktien oder Investmentfonds oder Rentenversicherungen zu überprüfen, nicht mal die Geschäftsführung im vierten Stock. Früher haben wir in den Fluren Büro-Football gespielt und in der Kantine Tango geübt. Jetzt schauen wir auf mehrfarbigen Grafiken zu, wie unsere Rente schrumpft. Football und Tango waren besser für die Seele. Wie an den meisten Vormittagen der letzten Monate blinzelte Scott frustriert die dynamischen Anzeigen auf seinem Schirm an, die sich in fünfminütigen Intervallen aktualisierten und seine schwache finanzielle Urteilskraft, seine schlechten Einsätze bestätigten. Über mehrere Jahre waren die Kurse verlässlich gestiegen, und die Menschen hatten angefangen, den Aktienmarkt als eine Art Geldvermehrungsmaschine zu betrachten, doch das traf nun ganz und gar nicht mehr zu. Der Markt verhielt sich nach keinem für Scott erkennbaren Muster. Wenn man den Markt in Grafiken und Tabellen verwandelte, so wie diejenigen, die gerade Scotts Flachbildschirm füllten, dann entstand die Illusion, es handele sich um eine mathematische Gleichung, die gewissen Regeln folgte, ganz ähnlich jenen, die im Herzen eines Computerspiels versteckt waren, Regeln, bei dem die Spieler Stunde um Stunde damit verbrachten, die verborgene Logik zu ergründen, um dann endlich den Schlüssel zur Schatzkiste zu finden. Doch die Gleichungen, die den Markt beschrieben, waren selbst für einen Computer zu unübersichtlich: die Summe der Wünsche und Ängste von Millionen von Menschen, geteilt durch und multipliziert mit den angeblich rationalen, in Wirklichkeit aber sehr subjektiven Kalkulationen der »Analysten«. Die Berechnungen wurden noch weiter verzerrt durch die Steuerschwindeleien von Finanzbuchhaltern, die ebenso kreativ nebulös sein konnten wie die Maler des Impressionismus. Die Zahlen ihrer Tabellenkalkulationen wurden von Fiktionen aufgebläht, wie sie Sasha »Big Man« Avakian damals bei ihren Treffen mit den Risikoinvestoren stets zusammenfabuliert hatte. Diese Lektionen hatte Scott gelernt, als der Big Man ihr Unternehmen leitete, aber leider war er nicht in der Lage gewesen, sie auf seine eigenen Investitionsentscheidungen anzuwenden. Mehrere frustrierende Jahre lang hatte er nun das »Abschiedsgeld« von MindWare auf dem Markt herumgeschoben und in verschiedene »Finanzinstrumente« gesteckt. Vor fünf Jahren hatten die Grafiken und Tabellen eindeutig in Richtung der exotischen neuen Arbeitsfelder gezeigt, die in den Labors des Forschungsdreiecks von North Carolina getestet wurden, und wenn sie dieser Logik weiter gefolgt wären, dann hätte Scott heute nicht mehr bei Elysian Systems arbeiten müssen. Er wäre die Sorgen um seine Hypothek längst los gewesen. Pepe, der Gärtner, hätte immer noch seinen Rasen gemäht und den Tropengarten gepflegt, und Scott wäre nicht ständig den Beschwerden seiner Frau zu diesem Thema ausgesetzt gewesen.
    Wie üblich trafen die Stammgäste des Laguna Municipal Park South gegen Mittag ein. Sie brachten Lunchpakete mit, Kinderkarren voller Ersatzwindeln und Feuchttücher, und sie hatten Prepaid-Handys dabei, um mit den Verwandten in den Barrios zu telefonieren, die ihre eigenen Kinder beaufsichtigten, während sie ihre Dollars damit verdienten, die Jungen und Mädchen ihrer patrones zu versorgen. Heute wurde die Alltagsroutine im Park durch das Auftauchen einer Neuen aufgebrochen: ebenfalls eine latinoamericana , die auf der Bank neben den Spielgeräten saß und die Stammgäste sofort an die Leute unten im Süden erinnerte. Das lag nicht an ihren breiten Gesichtszügen und der karamellfarbenen Haut oder an ihrer zusammengesunkenen Haltung und dem spöttischen Grinsen, mit dem sie die Schaukeln betrachtete. Nein, es war die Uniform, derentwegen die Stammgäste auf dem Spielplatz an ihre Heimat dachten, die übertrieben formelle

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