In den Klauen des Bösen
die Schlüssel vom Ankleidetisch neben der Tür, verließ das Schlafzimmer, stolperte durch das Wohnzimmer zur Küche und weiter zur Garage. Als er in den Truck kletterte und zum öffnen des Garagentors nach der Fernbedienung tastete, war er sich nicht einmal sicher, ob seine Schwäche körperlicher Natur war oder der Angst vor dem Tode entsprang, die seinen Geist lähmte.
Phillips.
Er musste Phillips erreichen, bevor es zu spät war.
Das Garagentor hinter ihm ging entsetzlich langsam hoch. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er den Pick Up endlich auf die Straße manövriert hatte. Er legte den Vorwärtsgang ein und fuhr der Morgendämmerung entgegen.
Der Großvater war schon lange fortgefahren, aber Kelly stand immer noch wie gebannt am Fenster ihres Schlafzimmers.
Sie war die ganze Nacht über wach geblieben. Sie hatte das Telefon im Auge behalten, darauf gewartet, dass das rote Lämpchen im Dunkel wieder aufblinkte - ein Zeichen, dass ihr Großvater schon wieder bei Dr. Phillips anrief. Wann immer das Lämpchen aufgeleuchtet hatte, hatte sie den Hörer in ihrem Zimmer abgenommen und die Nachricht mitgehört, die er dem Arzt hinterließ.
Die Stimme war von Anruf zu Anruf schwächer geworden und beim letzten Telefonat vor nur wenigen Minuten kaum mehr vernehmbar gewesen.
Er war bestimmt krank, und seine Krankheit hatte sich im Laufe der Nacht verschlimmert. Vor drei Stunden hatte sie einmal kurz überlegt, ob sie zu ihm gehen und sich nach seinem Befinden erkundigen sollte, es dann aber unterlassen, wegen ihres früheren Eindrucks, dass er irgendwie teilhatte an dem Bösen, welches im Inneren des Moores geschah.
Als sie ihn schließlich sein Zimmer verlassen hörte, hatte sie die Tür weit genug aufgemacht, um durch den Spalt unten in die Halle lugen zu können.
Ihr hatte der Atem gestockt, als sie ihn auf dem Weg zur Küche sah, tief gebeugt, sich mühsam über den Steinfußboden schleppend, mit einer Vorsicht, als fürchte er jeden Moment das Gleichgewicht zu verlieren. Vollkommen bestürzt aber hatte sie sein Gesicht, das sie klar und deutlich erkennen konnte, als er auf der Einfahrt seinen Wagen zurücksetzte - es war, ohne jeden Zweifel, das Gesicht gewesen, das sie in ihren Träumen verfolgt hatte, das ihr auch im Spiegel erschienen war.
Vor eben den Händen, die das Steuer umklammerten, war sie in ihren Alpträumen zurückgeschreckt - krallenförmige Hände, die nach ihr gegriffen hatten.
Sie hatten ihr gar nicht das Leben nehmen wollen.
Die Jugend wollten sie ihr entreißen.
Der scheußliche Greis wollte die Widerstandskraft ihres jungen Körpers, die Behendigkeit ihrer Muskeln, die Stärke ihrer Knochen, die Frische ihrer Haut, den Glanz ihrer Augen und die Fülle ihres Haars an sich bringen.
Wusste er - wussten seinesgleichen -, überhaupt, was ihr sonst noch gestohlen wurde?
In Kellys Herz ballte sich solcher Hass, dass sie plötzlich begriff, was Michael empfunden haben musste, als er gegen Mitternacht erkannt hatte, dass seine Schwester aus der Grabstätte weggebracht worden war.
Michael und sie mussten einen Weg finden, für sich und die anderen Kinder zurückzugewinnen, was ihnen entwendet worden war, und dem Bösen ein Ende zu machen.
Als Kelly, von der Erschöpfung der langen Nacht übermannt, in ihrem Bett endlich eindöste, kehrte der Alptraum wieder, doch das uralte Gesicht, das aus dem Finstern drohte, war ihr nicht mehr fremd.
Es war das Gesicht ihres Großvaters.
Die Sonne hob sich über den Horizont, als Carl Andersen den Hinterhof des Hauses von Warren Phillips erreichte, und vor ihren ersten Strahlen zuckte er zurück, als ob sie ihn und sein langjähriges Geheimnis entlarven könnten.
Er ließ den Schlüssel im Anlasser stecken. Mit zitternder Hand drückte er am hinteren Hauseingang die Klingel. Er hörte das Klingeln durchs Haus hallen - das Haus klang wie leer. Eine tiefe Niedergeschlagenheit ergriff ihn. Er rang nach Atem und brach auf den Stufen zusammen.
Erst beim Geräusch eines Motors rappelte er sich wieder auf. Als er dann den bekannten Buick die Einfahrt hochfahren sah, empfand er einen Hauch von Hoffnung. Warren Phillips hielt beim Anblick Carls an, stürzte aus dem Wagen, half ihm auf die Beine und führte ihn ins Haus.
»Ich habe Sie die ganze Nacht zu erreichen versucht«, röchelte Carl auf dem Weg zur Bibliothek. »Wo zum Teufel...«
»Ich war in der Klinik«, erklärte Phillips brüsk. »Nun mal langsam!«
»Eine Spritze!« bettelte
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