In den Klauen des Bösen
an, einen nach dem andern. Manche hatten sich inzwischen so verändert, dass Barbara sie kaum mehr wiedererkannte.
Da war Arlette Delong, mit der gleichen Wabenfrisur, die sie auch heute noch trug, nur dass sie nicht so verzweifelt krampfhaft wirkte wie seit kurzem. Arlette war damals eine recht junge Frau gewesen - sechzehn Jahre später war sie füllig geworden, ihr Gesicht hatte sich durch die lange tägliche Arbeitszeit im Cafe verhärtet. Doch das Haar war das gleiche - nach hinten gekämmt, toupiert, mit Spray in Form gehalten; auf dem Bild fehlte nur der Bleistift, den Arlette inzwischen stets in der platinblonden Frisur stecken hatte.
Und da waren auch Billy-Joe und Myrtle Hawkins, die mit Buddy schwanger gewesen war. Billy-Joes damals so hübsches Gesicht war inzwischen aufgeschwemmt, seine Nase nach all den Jahren des starken Alkoholgenusses aufgedunsen, und er hatte seither einen Bierbauch bekommen.
Angesichts von Warren Phillips runzelte Barbara plötzlich die Stirn. Er stand mit ein paar anderen Männern unter einer Fichte zur Linken des Picknick-Tisches, an dem Barbara saß.
Der Arzt hatte sich nämlich kein bißchen verändert.
Sein kräftiges Kinn war markant geblieben, und auch das Haar war das gleiche.
Barbara wurde nachdenklich.
Damals hatte sie Dr. Phillips als viel älter empfunden. Jetzt, sechzehn Jahre später, schien er eher gleichaltrig zu sein.
Wie alt war Phillips eigentlich?
Sie holte die Lupe aus der Küche und betrachtete das Bild genau: Sie schätzte ihn auf fünfundvierzig, höchstens auf fünfzig.
Somit müsste er heute einundsechzig sein. Oder älter.
Er sah jedoch immer noch aus wie fünfundvierzig.
Sie begann sich die Männer neben Phillips anzusehen.
Carl Anderson war sofort erkennbar. Wie Phillips hatte auch er sich seither nicht verändert.
Genausowenig wie Fred Childress oder Orrin Hatfield.
Sie entdeckte Judd Duval, der sich auf einer Decke flezte - auch er sah heute aus wie damals.
Sie suchte nach weiteren Gesichtern, die nicht gealtert waren, als ein Schatten auf das Album fiel.
Craig musterte sie besorgt. »Mein Schatz? Ist etwas?«
Barbara lächelte schwach. »Ich konnte nicht schlafen«, sagte sie. »Am Ende habe ich’s einfach nicht mehr versucht. Möchtest du auch einen Kaffee?«
Craig schüttelte den Kopf. »Suchst du etwas Bestimmtes?«
»Bilder«, erwiderte Barbara. »Ich wollte mir noch einmal Jenny ansehen. Ich habe es allerdings nicht ertragen.«
Craig griff ihr über die Schulter, klappte das Album zu und zog sie an sich. »Es wird alles gut werden, Liebling«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich weiß: uns kommt es vor, als ob der Schmerz nie aufhören würde. Aber er wird aufhören. Ich schwöre es dir.«
Barbara begab sich wieder ins Schlafzimmer. Beim neuerlichen Versuch einzuschlafen wurde ihr bewusst, dass Craig sich irrte.
Der Schmerz des Verlustes würde zunehmen.
Mit dem Schlaf kamen die Träume, Träume des Suchens nach ihren Töchtern, die aus dem Dunkel nach ihr riefen.
Sie konnte beide deutlich vernehmen, Sharon wie Jenny.
Sie folgte den Stimmen durch die Finsternis und fand sie schließlich mit einem strahlenden Lächeln in einem hellen Lichtkreis beisammen.
Doch als sie auf sie zurannte, sie in die Arme nehmen und ihnen ins Gesicht sehen wollte, hatte sich etwas geändert.
Jenny war die gleiche, wie immer. Sharon war nicht Sharon.
Sharon war Kelly Anderson.
Carl Anderson lag mit einem Buch auf dem Schoß wach im Bett. Er hörte ein Geräusch - wie eine Tür, die geschlossen wurde -, überlegte, schob das Buch weg und stand auf. Ohne sich einen Morgenrock anzuziehen und Licht anzumachen, ging er ins Wohnzimmer.
Er prüfte den Hauseingang, die Schiebetür zum Patio - sie waren abgeschlossen. Die Küchentür auch. Der Ausgang zur Garage ebenfalls.
Carl ging nach oben, horchte an Kellys Tür und öffnete sie, als er nichts hörte, einen Spalt breit.
Kelly lag - mit dem Gesicht zur Tür - im Bett und schlief.
Carl zog die Stirn in Falten.
Schlief sie wirklich, oder war es die Tür ihres Zimmers gewesen, die er gehört hatte?
Er schlich sich neben ihr Bett.
Ihr Atem ging gleichmäßig.
»Kelly?« flüsterte er.
Als seine Finger ihre Haut berührten, schlug sie die Augen auf. »Großvater?« Sie hatte Angst. Im schwachen Schein des Mondes sah er so anders aus, viel älter. »Ich... habe geschlafen«, sagte sie rasch und wich vor der Berührung zurück, gab sich dann aber Mühe, ihren Schrecken vor ihm zu
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