In den Klauen des Bösen
den magischen Tönen überließ, die plötzlich wieder aus dem Nichts ertönten, empfand sie Angst.
Und wenn sie nicht stark genug wäre?
Wenn sie den Willen nicht aufbringen könnte zu tun, was Michael getan hatte?
Sie schob den Zweifel beiseite.
Sie würde alles tun, was notwendig wäre, um sich von dem entsetzlichen Terror ihrer Alpträume zu befreien und von der eisigen inneren Leere, die ihr Leben von Anbeginn an zu verschlingen gedroht hatte.
28
Craig und Barbara Sheffield saßen im Auto und schauten auf die friedliche Fassade des kleinen, weißen Gebäudes im Kolonialstil mit den grünen Läden, wo sich die Leichenhalle von Villejeune befand. Keiner der beiden wollte hinein; keiner war innerlich auf alles, was sich dort herausstellen könnte, gefasst. Schließlich öffnete Craig seufzend die Tür und stieg doch aus. Als Barbara ihm auf den Bürgersteig folgte, drückte er ihr zur Ermutigung den Arm. »Bist du soweit?«
Wortlos stieß Barbara die Eingangstür auf und trat in die unnatürliche Stille. Gleich zur Linken vorn lag der Aufbahrungsraum, wo vor nur wenigen Tagen Jenny gelegen hatte. Die Tür stand offen; der Raum war leer. Zur Rechten befand sich ein kleines Büro, in dem Fred Childress bei ihrem Eintreten besorgt reagierte, als er die beiden erkannte und Barbaras ernste Miene sah.
»Barbara? Craig? Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Ja«, sagte Craig kalt. »Hier ist etwas nicht in Ordnung. Gib mir die Schlüssel zu unserem Mausoleum, Fred.«
Die Augen des Bestattungsunternehmers weiteten sich vor Entsetzen. »Das Mausol...«
»Für unser Mausoleum. Wo meine Kinder begraben sind. Falls sie begraben wurden!«
Fred Childress erhob sich empört. »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, Craig...«, begann er, doch Craig schnitt ihm erneut das Wort ab.
»Die Schlüssel, Fred!« sagte er. »Sonst werde ich die Gruft aufbrechen, und wenn ich entdecke, was ich vermute, werden Sie viele, viele Jahre im Gefängnis verbringen.«
Childress’ Gedanken überschlugen sich. Das war eine ganz und gar unvorhergesehene Entwicklung. »Sie wissen genau: Die Öffnung eines Grabes bedarf einer gerichtlichen Genehmigung, Craig...« begann er. Er war völlig durcheinander.
»Dazu ist keine Zeit, Fred«, unterbrach Craig. »Entscheiden Sie sich. Bekomme ich die Schlüssel? Oder muss ich das Grab aufbrechen?«
Childress zögerte noch immer, doch dann fiel ihm eine Lösung ein: Gib ihnen die Schlüssel! Laß sie doch die Gräber öffnen! sagte er sich. Ihre Schlussfolgerungen könnte er hinterher bestreiten, und sie würden sicherlich nicht ihn beschuldigen, wenn er jetzt kooperierte.
Er verschwand und kehrte mit einem schweren Schlüsselbund zurück. »Es ist wirklich außergewöhnlich, Craig«, beharrte er. »Laut Gesetz...«
»Die Gesetze sind mir bekannt«, sagte Craig, als er die Schlüssel nahm. »Komm, Barbara!«
Die beiden hatten sein Büro kaum verlassen, da wählte Childress die Nummer von Warren Phillips.
Steif und verkrampft stand Barbara vor dem Mausoleum. Sie nahm die reichverzierte Fassade des Steins kaum wahr, während Craig nach dem passenden Schlüssel suchte. Auf einmal war sie voller Zweifel. Wollte sie die Wahrheit wirklich wissen? Was würde ein leeres Grab bedeuten? Für sie persönlich? Für Kelly? Falls Warren Phillips Kelly damals bei der Geburt entwendet und eine Woche später den Andersens gegeben hatte - welche Folgen würde das jetzt haben?
Was war damals geschehen?
Wie könnte man es nach sechzehn Jahren ändern?
Es war ein heißer Nachmittag, doch Barbara fröstelte. Sie wollte Craig schon mitteilen, sie hätte es sich anders überlegt, da hörte sie seine Stimme. »Ich habe ihn gefunden!«
Ihr Blick wurde auf einmal klar. Sie sah den großen Bronzeschlüssel in der Grabtür stecken, noch lag Craigs Hand am Griff, und Craig fragte, als ob er ihre Zweifel ahnte, ein letztesmal: »Bist du dir völlig sicher?«
Barbara nickte entschlossen. Craig drehte den Schlüssel im Schloss. Sie konnte es hören, als der Riegel sich bewegte.
Craig zog die schwere Tür auf. Sie quietschte wie aus Protest gegen die Eindringlinge. Zum erstenmal seit sechzehn Jahren fiel Tageslicht auf den kleinen Mahagoni-Sarg, in dem Sharons winziger Leichnam begraben worden war.
Das Holz hatte mit den Jahren seinen Glanz verloren, und als Craig den Sarg aus der Nische hob und behutsam auf dem Boden abstellte, fühlte Barbara eine tiefe Traurigkeit. Sie wandte sich ab, als Craig den Sargdeckel
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