In den Klauen des Bösen
sie vergessen. Deshalb stand er auf und trug sein Geschirr in die Küche. Er wollte schon ins Eßzimmer zurück, um den ganzen Tisch abzuräumen, überlegte es sich dann aber anders.
Die beiden hatten Kelly noch nicht kennengelernt, und schon lagen sie sich ihretwegen in den Haaren. Zum Teufel mit ihnen! Er würde sich seine eigene Meinung bilden!
Er verließ das Haus durch den Hinterausgang, überquerte den Rasen und marschierte zur Anlegestelle. Das Wohnboot mit dem Innenbordmotor war ihm nur in Begleitung des Vaters erlaubt. Er band das Ruderboot mit dem kleinen Außenbordmotor los, das er jederzeit benutzen durfte, sprang hinein und schob es aus dem Dock. Der Motor sprang beim zweiten Startversuch an. Michael brachte ihn auf Touren. Beim Einbiegen in einen anderen Kanal fragte er sich, ob die Eltern seine Abwesenheit überhaupt bemerkt hatten.
Warren Phillips sah der Patientin im Kreißsaal der kleinen Klinik ins Gesicht. Ihr langes, blondes Haar lag in feuchten Locken, die ihr rechtes Auge verdeckten. Trotz der Klimaanlage war es im Operationssaal heiß. Phillips wischte sich mit dem Ärmel des grünen Kittels den Schweiß von der Stirn. Amelies Wehen hatten am frühen Nachmittag eingesetzt, und sie befand sich bereits seit einer Stunde im Kreißsaal, aber jetzt erst begann der Kopf des Kindes sichtbar zu werden.
»Pressen, Amelie!« drängte er. »Gleich ist es soweit. Nur noch ein paar Minuten!«
Amelie kämpfte gegen die Müdigkeit an, die ihr das letzte Quentchen Kraft zu rauben schien.
»Kann’ nich’.«
»Sssch«, machte die Schwester und wischte Amelie mit einem feuchten Tuch die Stirn. »Nicht sprechen, Süße! Ganz auf das Baby konzentrieren!«
Amelie wurde von einer heftigen neuen Wehe gepackt - als ob ihr jemand mit einem heißen Eisen in den Leib führe.
Es tat einfach zu weh. Das konnte doch eigentlich nicht so weh tun, oder? Noch eine Wehe. Ihr wurde übel.
Sie durfte sich nicht erbrechen. Doch nicht jetzt!
Sie konzentrierte sich mit aller Kraft auf das Baby und versuchte zu pressen, wie die Schwester ihr gezeigt hatte.
»Halten Sie die Nadel bereit!« hörte sie Dr. Phillips sagen. Er sprach leise, wohl in der Hoffnung, dass sie es nicht hören würde, aber sie besaß ein gutes Gehör.
Sie wollte aufschreien, ihn anflehen, dass dem Baby nichts zustoßen dürfe, aber dann wurde sie wieder von einem Krampf gepackt. Sie schrie vor Schmerzen.
»Alles in Ordnung!« sagte ihr die Schwester. »Nun lassen Sie es schon heraus! Einfach kommen lassen!«
Sie schrie erneut, und wieder war ihr, als ob ihr Körper in Stücke gerissen würde. Dann spürte sie, dass sich etwas bewegte und austrat.
Der Schmerz ließ nach.
»Die Nadel!« hörte sie Dr. Phillips befehlen. Der Ton seiner Stimme verriet ihr, dass da etwas nicht in Ordnung war. Sie hörte ihn wieder. »Die Nabelschnur abbinden! Schnell!« Die Stimme wurde laut. »Nun machen Sie schon, Schwester! Jetzt!«
Gleich darauf vernahm sie die Stimme der Schwester.
»Ist mit dem Baby alles okay, Dr. Phillips?«
Schweigen.
Das Schweigen wollte nicht enden.
Dann wieder die Stimme des Arztes.
»Er wird es nicht schaffen...«
Er sprach weiter, doch Amelie hörte nicht mehr zu. Sie wusste, was die Worte bedeuteten.
Ihr Baby war tot.
Nach all diesen Monaten... war ihr Kind gestorben.
Aber das war doch nicht möglich!
Das war nicht gerecht!
Es war nicht tot! Sie würde es nicht zulassen!
Eine neue Woge des Schmerzes durchflutete sie. Es war diesmal kein körperlicher Schmerz, sondern ein Schmerz, der ihr ganzes Wesen erfasste.
»Neeiiin!« schrie sie. »Nein! Ich will mein Baby! Gebt mir mein Kind!«
Die Schwester - Amelie konnte sich nicht einmal an ihren Namen erinnern - versuchte sie zu trösten.
»Es ist zu spät, Süße«, flüsterte sie. »Er lebt nicht mehr. Ihr kleiner Sohn ist dahin. Aber Sie sind wohlauf.«
»Nein!« schrie Amelie von neuem. »Ich will mein Kind! Gebt mir mein Baby!« Aus reiner Willenskraft richtete sie sich auf dem Gebärtisch auf und warf wilde Blicke um sich. Sie suchte nach ihrem Kind.
Doch bis auf Dr. Phillips, die Schwester und sie selbst war der Kreißsaal leer.
»Es tut mir leid«, sagte Dr. Phillips freundlich, kam um den Tisch, nahm Amelies Hand und drückte sie behutsam zurück auf den Tisch. »Es stand nicht in unserer Macht. Wir hätten es auch nicht retten können wenn wir es letzte Woche vorzeitig zur Welt gebracht hätten. Es ist nicht Ihre Schuld, Amelie. Vergessen Sie das nie! Sie
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