In den Klauen des Bösen
eine Stunde hinausschöbe. Doch kurz vor Mitternacht hatten sie auf der Außentreppe zu Kellys Zimmer plötzlich Schritte vernommen. »Siehst du?« Carl hatte ihr zugelächelt. »Es bestand doch wirklich kein Anlaß zur Sorge!«
Die Bemerkung hatte Mary hinterher zu schaffen gemacht. Was sollte das heißen - >kein Anlaß zur Sorge Kelly war fast vier Stunden lang fortgewesen; sie hatten weder gewusst, wo Kelly sich aufhielt, noch was sie machte. Und Mary hatte deshalb fast die ganze Nacht kaum geschlafen.
Sie fasste einen Beschluss. »Wir werden gemeinsam mit ihr reden«, schlug sie Ted vor. »Wir werden ihr klarmachen, dass wir sicherlich nichts dagegen haben, wenn sie ausgeht, aber wissen möchten, wohin und mit wem sie geht.« Was uns Kellys berühmten kritischen Blick einbringen wird und den Vorwurf, ihre Privatsphäre zu verletzen, dachte Mary insgeheim, und da hatte Kelly vielleicht sogar recht. Mary klatschte sich zum Wachwerden kaltes Wasser ins Gesicht, Seit ihrer eigenen Mädchenzeit hatte sich vieles geändert.
Viele Eltern ignorierten das einfach. Dazu war Mary nicht fähig.
Als sie wenige Minuten später nach unten ging, hatte Carl bereits gefrühstückt. »Entschuldigung«, sagte Mary, »aber ich habe nicht gut geschlafen.«
Carl zuckte, ohne von der Zeitung aufzublicken, mit den Schultern. »Kein Problem! Ich bin gewohnt, für mich selbst zu sorgen.« Die Zeitung legte er erst beiseite, als Kelly nach unten kam. »Da ist ja mein Engelchen!« strahlte er, wurde jedoch angesichts ihrer Blässe besorgt. »Kelly?« fragte er. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
Bei der Veränderung in Carls Stimme drehte Mary sich abrupt um. Kelly war angezogen wie immer, mit schwarzem Rollkragenpullover und abgetragenen Jeans; an den Ohren baumelte ein Gehänge, das Kelly wahrscheinlich nur zur Verärgerung der Eltern trug. Sie schien ein Make-up aufgetragen zu haben, das ihr Gesicht teigig machte. Ihre Augen wirkten glasig. Sie erweckte den Eindruck, als wüsste sie nicht, wo sie sich befand.
Drogen!
Mary ließ den Gedanken gleich wieder fallen. Während der letzten Wochen hatte sie viel über Kelly erfahren; mit Drogen hatte Kelly nie etwas zu tun gehabt. »Was ist mit dir, Kelly?« fragte Mary.
Kelly setzte eine trotzige Miene auf und schüttelte den Kopf, als sie am Tisch Platz nahm. »Ich... ich fühle mich einfach nicht wohl. Ich habe nicht gut geschlafen.«
»Vielleicht hättest du besser geschlafen, wenn du vor Mitternacht im Bett gewesen wärst.« Mary bereute die Worte sofort. Sie erwartete, dass Kelly vor Wut platzte, doch da erlebte sie eine Überraschung.
»Mitternacht?« fragte Kelly. »Wir sind doch nicht...«
»Wir?« Marys Stimme war trotz aller guten Vorsätze wie eine Peitsche. »Mit wem warst du zusammen?«
Kelly lief rot an. »Mit einem Jungen... Ich habe ihn gestern kennengelernt.«
»Von einem Rendezvous hast du uns gestern nichts gesagt.« Es klang ungewollt schroff. »Du hast nur gesagt...«
»... dass ich zu Bett gehen wollte!« gab Kelly zurück. »Und dann bin ich eben nicht schlafen gegangen. Ich habe meine Meinung geändert und bin spazierengegangen. Was ist daran so besonders? Und eine Verabredung habe ich übrigens auch nicht gehabt!«
Carl Anderson mischte sich gewichtig ein. »Nun mal langsam, junge Frau«, meinte er. »Du hast keinen Grund, mit deiner Mutter in einem solchen Ton zu reden. Und ein Rendezvous hast du doch gehabt. Also - mit wem?«
Kelly warf ihrem Großvater einen bösen Blick zu. »Mit Michael Sheffield. Okay? Sein Vater ist dein Rechtsanwalt.« Sie griff ihre Mutter an. »Aber ich war nicht mit ihm verabredet. Ich hatte nur irgendwie damit gerechnet, dass er vielleicht vorbeikäme. Und er kam tatsächlich. Da bin ich ein bißchen mit ihm spazierengegangen. Ich bin sechzehn, Mutter. Ich kann ausgehen, wann ich will.«
Marys gute Vorsätze, das Gespräch mit Ruhe und Vernunft zu führen, begannen zu bröckeln. »Hättest du uns vorher nicht fragen können?« wollte sie wissen.
Kelly war aufgestanden. »Hättet ihr mich denn gehen lassen?« erwiderte sie. »Und was ist eigentlich vorgefallen? Ich bin mit Michael aus gewesen und habe das Gefühl für die Zeit verloren! Warum könnt ihr mich nicht einmal in Frieden lassen?« Sie stürmte auf den Patio hinaus und verschwand um die Ecke des Hauses.
Als Ted in die Küche trat, wollte Carl Kelly folgen, doch Mary hielt ihn zurück. »Laß!« sagte sie. »In dem Zustand läßt sie nicht mit sich reden.« Sie
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