In den Klauen des Bösen
Loretta Jagger bieten diesen Jungen dar. Nehmt ihr ihn in eure Mitte auf?«
»Wir nehmen ihn auf«, antworteten die Kinder einstimmig.
Der Schwarze Mann legte das Baby auf den Altar und wickelte es aus der Decke, die es umhüllte. Es lag nackt im Kerzenschein, streckte die winzigen Händchen aus und blinzelte in das Flackern der Flammen.
Und wiederum griff der Schwarze Mann in sein Gewand, und als die wartenden Kinder seine Hand wieder sehen konnten, hielt er ein reich verziertes Instrument mit einem Griff aus Elfenbein, aus dem eine glänzende Nadel ragte.
Der Schwarze Mann hielt das Instrument in die Höhe, ließ es über der Brust des Kindes schweben, bis er unter dem anhaltenden Schweigen des Kreises die Nadel plötzlich senkte.
Als die Nadelspitze ihm durch die Haut stach und ins Brustbein drang, stieß das Kind einen Schrei aus, der erstarb, als die Nadel ihr Ziel erreichte. Obwohl das Kind körperlich unbeschädigt blieb, wurde ihm die Seele genommen.
Als der Schrei des Kindes in einem langen Seufzer endete, schraubte der Schwarze Mann den Elfenbeingriff von der Nadel ab. Er hielt das Baby hoch. »Seht hier euren Bruder«, sagte er zu den umstehenden Kindern. »Nehmt euch seiner an, so wie ich mich eurer angenommen habe.«
Amelie Coulton wachte im Zimmer der Klinik mit einem Schrei auf. Sie hatte im Traum ihr Baby gesehen.
Und ihr Kleiner war nicht tot.
Er hatte Schmerzen. Er brauchte sie.
10
»Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll!« sagte Mary Andersen am nächsten Morgen im Badezimmer zu Ted. Sie stand vor dem Waschbecken und prüfte kritisch das eigene Spiegelbild. »Ich bin bestimmt erst nach drei Uhr eingeschlafen.« Der fehlende Schlaf war ihr anzusehen - die tiefen Ringe unter den Augen, die schlaff wirkende Haut unter dem Kinn. Ted schaute Mary bei ihrer Musterung belustigt zu. »Tut mir leid«, sagte Mary. »Aber es ist nicht leicht, nachts aus Sorge um die Tochter wachzuliegen und beim Morgengrauen aufzustehen, um dem Ehemann sein Frühstück zu bereiten. Das macht ein Mädchen alt.«
»Aber nicht weniger attraktiv«, meinte Ted und versuchte sie launisch zu zwicken. Das Lächeln verschwand. »Vielleicht hätten wir gleich mit Kelly reden sollen.«
Mary zog die Brauen hoch. »In dem Punkt muss ich deinem Vater rechtgeben. Du weißt ganz genau, wie sie reagieren kann, und einen Wutausbruch wollte ich nicht provozieren. Dann hätt’ ich überhaupt keinen Schlaf mehr gekriegt.«
»Soll ich heute morgen mit ihr reden?«
Mary zögerte. Noch vor einem Monat hätte sie die Frage bejaht; nun war sie unsicher. Wenn Kelly auf den Gedanken käme, dass sie beobachtet wurde? War denn eine Mutter nicht verpflichtet, sich um die Tochter zu sorgen? Nach Kellys Selbstmordversuch hatte Mary gemeint, das Schlimmste sei vorbei; auch in dem Punkt war sie sich nicht mehr so sicher.
Einen Monat lang hatte sie Kelly wie ein rohes Ei behandelt, alles getan, damit Kelly sich wohl fühlte und nicht wieder aus der Bahn geworfen wurde. Falls Kelly annähme, sie stünde unter Aufsicht...
Mary wurde wütend. Warum sollten sie Kelly denn nicht beobachten? Sie machten sich Sorgen um sie. Kelly hatte sie in der vergangenen Nacht nicht vorher informiert, sondern sich heimlich aus dem Haus geschlichen.
Ohne den Ventilator wäre Mary wohl nie dahintergekommen. Auf dem Weg ins Bett hatte sie - nur für den Fall, dass Kelly noch nicht schlief - zum Gutenachtsagen den Kopf durch die Tür gesteckt und Kelly im schwachen Mondlicht in tiefem Schlummer gesehen. Mary wollte die Tür schon wieder zuziehen, als ihr die stickige Luft im Zimmer auffiel.
Das Fenster war weit geöffnet, doch in der warmen Nacht hatte sich kein Lüftchen geregt. Mary hatte deshalb den Ventilator einschalten wollen, doch versehentlich den Lichtschalter erwischt und dann sofort erkannt, dass Kelly ihre Anwesenheit nur durch Kissen unter der Decke vorgetäuscht hatte.
Ted hatte gleich die Polizei verständigen wollen. Carl war hart geblieben: man sollte auf Kellys Rückkehr warten. »Wie müsste ihr zumute sein, wenn ihr die Bullen auf sie hetzt? Außerdem sind wir hier nicht in Atlanta. In Villejeune kann ihr nicht viel zustoßen.« Carl hatte schließlich einen Kompromiß vorgeschlagen. »Wir haben jetzt kurz nach elf. Laßt uns bis Mitternacht warten! Wenn sie bis dann nicht zurück ist, werden wir uns die nächsten Schritte überlegen.«
Mary hatte nur widerstrebend zugestimmt; sie war überzeugt, dass man das Unvermeidliche nur um
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