In den Klauen des Bösen
nicht eingestehen. Wenn nämlich auch sie einen Flecken auf der Brust hatte, konnte der Traum kein Traum gewesen sein.
Eine Stunde später saßen sie an einem der zahllosen Entwässerungsgräben. Beim Anblick des Moores fasste Kelly nach Michaels Hand.
Anders als an den Abenden zuvor wirkte das Moor unheimlich mit seinen moosbehangenen Zypressen und den Büschen von Kohlpalmen an den Rändern der seichten Bayous, die ins Leere zu laufen schienen. Kelly verstand gar nicht, dass sie beide sich gestern in den Tiefen des Moores so wohl gefühlt haben konnten. Selbst von hier aus konnte sie in den Bäumen zusammengerollte Schlangen und im Schlamm die unbeweglichen Alligatoren lauern sehen. Die Sonne stand hoch am Himmel. Kelly konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich in solch eine schreckliche Wildnis hineinwagen würde.
Sie begannen von der gestrigen Nacht zu sprechen, ein wenig stockend zunächst, suchend, bis sie merkten, dass ihre Erinnerungen sich deckten.
Die Zeremonie. Der Schwarze Mann. Die Nadel, die er ihnen in die Brust gestochen hatte.
Die Kinder.
Die Kinder, die so gänzlich anders waren als sie und mit denen sie sich dennoch verbunden gefühlt hatten.
»Aber sie sind Sumpfratten«, bemerkte Michael zuletzt. »Sie haben mit uns nichts gemeinsam.«
Und wenn sie selbst auch Sumpfratten wären? schoß es Kelly durch den Sinn. Wenn sie in Wahrheit von dort, aus dem Moor kämen? Bei dem Gedanken zuckte sie zusammen. In ihrer Fantasie hatte sie sich ihre wahre Mutter immer als schöne Frau vorgestellt - auf keinen Fall wie diese Frauen des Sumpfgebiets mit ihren schrumpeligen Gesichtern und dem ungepflegten, strähnigen Haar.
»Hast du dich je gefragt, ob du nicht vielleicht nur adoptiert bist?« erkundigte sich Kelly.
Michael sah sie verwundert an. »Natürlich«, sagte er. »Ich bin doch ein Adoptivkind.«
Worauf nun Kelly ihn erstaunt musterte. »Ich auch«, erwiderte sie. »Meinst du, dass wir von dort kommen?«
Michaels Miene umwölkte sich, als er Kelly zum Moor hinüberstarren sah. »Aus dem Sumpfgebiet?« fragte er ungläubig. »Was willst du damit sagen?«
Kelly biß sich nervös auf die Lippen. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Ich bin mir nicht sicher. Aber haben wir uns möglicherweise deshalb ihnen zugehörig gefühlt, weil wir... also, ich meine, weil wir vielleicht wirklich zu ihnen gehören? Weil wir ursprünglich vielleicht von dorther kommen? Könnte es sein, dass unsere Eltern uns von Menschen im Moor übernommen haben?«
»Das ist doch verrückt«, protestierte Michael. »Die Menschen im Sumpf sind alle komisch. Die meisten wissen nicht mal, wer ihr Vater ist...«
»Könnte das nicht der Grund sein?« sagte Kelly. »Dass unsere richtigen Mütter im Moor leben und nicht zulassen wollten, dass wir wie die übrigen Kinder dort aufwachsen, und uns deshalb weggegeben haben?«
»Aber die Menschen dort sind alle halbverrückt...«
Kelly fixierte ihn. Sie sagte kein Wort. Sie musste es auch gar nicht aussprechen.
Sollte das der Grund sein für das merkwürdige Gesicht im Spiegel? überlegte Michael. Sollte es in seinem Bewusstsein einen dunklen Fleck geben, von dem er nichts wusste? Er wagte Kelly nicht offen anzusehen. »Siehst du im Spiegel manchmal ein fremdes Gesicht?« murmelte er, mehr zu sich selbst denn als Frage an Kelly. »Einen alten Mann, der fast schon tot aussieht und nach dir greift?«
Trotz der stickigen Nachmittagshitze lief es Kelly eiskalt über den Rücken. »Er steht hinter dir«, flüsterte sie, »und starrt dich an. Und wenn du dich umdrehst, ist niemand da.«
Michael war aschfahl geworden. »Du hast ihn also auch gesehen?«
Kelly nickte.
»Das habe ich gestern beobachtet«, fuhr Michael fort, »als ich mit dem Motorrad stürzte. Es war nicht das Auto, das mir den Schreck eingejagt hat. Es war dieses Gesicht. Ich hab es im Rückspiegel meines Motorrads gesehen.«
»Ich sah es in der Nacht, als ich mich umbringen wollte.« Und Kelly erzählte ihm stockend, mit leiser Stimme, von jener Nacht in Atlanta, berichtete ihm, dass dieses Gesicht sie seit frühester Kindheit in ihren Träumen verfolgte, gestand ihm die Angst, unter der sie litt. »Und ich habe auch angenommen, er hätte mich schwanger gemacht«, gab sie zuletzt zu, und sie habe sich gefürchtet, es den Ärzten mitzuteilen. »Darum wollte ich mir das Leben nehmen. Weil ich dachte, ich würde ein Kind von ihm kriegen.«
Michael musterte sie prüfend. »Aber du warst gar nicht schwanger,
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