In den Klauen des Bösen
zum erstenmal, ob sie wohl einmal selbst Kinder haben würde - wohl kaum, sagte sie sich. Sie nahm an, dass sie ihr ganzes Leben hier verbringen würde, um anderer Leute Babys zu betreuen. Wenn das der Wille des Schwarzen Mannes sein sollte, blieb ihr nichts anderes übrig.
Ungehorsam war Lavinia nie in den Sinn gekommen.
Als sie auf der Treppe Schritte vernahm, glitt ihr Blick automatisch zur Wanduhr.
Es war früh, viel zu früh.
Sie wusste, dass er es war. Denn hierher kam außer ihr nur der Schwarze Mann. Im übrigen war sein Gang ihr so vertraut, dass sie seine Schritte im Schlaf erkannt hätte.
Gleich darauf öffnete sich die Tür. Der Schwarze Mann trat ein. Er durchbohrte sie mit seinem Blick. Im hellen Licht der Küche wirkten seine Augen wie geschliffene Steine.
»Bring das Baby wieder in den Pflegeraum!« befahl Dr. Warren Phillips.
Mit kreidebleichem Gesicht rannte Lavinia los, um der Anweisung ihres Herrn und Meisters zu folgen. Phillips lächelte; die prompte Erfüllung seiner Wünsche befriedigte ihn jedesmal von neuem. Lavinia war die einzige, die sein Gesicht gesehen hatte - die den Mann zu Gesicht bekommen hatte, der hinter der Maske des Schwarzen Mannes lebte. Sie würde niemandem davon erzählen; denn während jener Zeremonie, als er ihr die Pflege der Babys anvertraut hatte, hatte er ihr die Stimmbänder entfernt.
Doch inzwischen gab es im Pflegeraum nicht mehr genug Babys.
Auf dem Weg suchte der Blick des Schwarzen Mannes gewohnheitsmäßig nach undichten Stellen im Boden. Die Räume unter seinem Haus waren aus dem Kalksteingrund geschlagen und gegen das unaufhörliche Sickern vom nahen Moor versiegelt worden; trotzdem liefen die Pumpen nahezu immer. Aber die Räume erfüllten ihren Zweck.
Das Haus lag ein paar Meilen hinter Villejeune in einer dichtbewachsenen Wildnis, die es vor zufälligen Besuchern versteckte. Und die wenigen Menschen, die ihn hier besuchten, sahen nichts von dem schalldichten Komplex unter dem Haus, von den Räumen, wo die Zeremonien vorbereitet wurden, die im Moor stattfanden, von den Laboratorien, wo Phillips ganz allein arbeitete, oder von dem Pflegeraum für die Babys.
Er trat ein, als Lavinia Carter das Plastikröhrchen an der Nadel im Brustkorb des Babys von Amelie Coulton wieder befestigte. Lavinia warf ihm einen angstvollen Blick zu, doch er beachtete sie nicht; er bewegte sich rasch zwischen den Krippen, um die vollen Flaschen an den IV-Stäben zu entfernen und durch leere zu ersetzen.
Schließlich kehrte er wieder zu Amelie Coultons Baby zurück, das in seiner Krippe auf dem Rücken lag; die Ärmchen waren mit Nylon-Strapsen gefesselt; die Nadel steckte noch in der Brust; aus dem Röhrchen tropfte eine hellbraune, faserige Flüssigkeit in die Flasche am IV-Stab. Phillips prüfte den Stand. Das war noch lange nicht genug. Er schaute sich um. Acht Krippen waren leer. Sie dürften nicht leer sein. Bis vor gar nicht langer Zeit war es ihm möglich gewesen, alle Krippen zu füllen. Probleme gab es erst seit etwa zwei Jahren.
Im Moor waren allzu viele Babys tot zur Welt gekommen; daraufhin hatten zu viele Väter bei der Geburt ihres Kindes im Kreißsaal des Krankenhauses in der Stadt anwesend sein wollen.
Als er mit der Schwester allein gewesen war, die ihre ganze Aufmerksamkeit stets der Mutter gewidmet hatte, war für ihn alles problemlos verlaufen. Die Väter aber achteten nur auf die Babys, ließen sie nicht eine Sekunde lang aus den Augen und nahmen sie nach der Geburt sofort an sich.
Immerhin - in der vergangenen Nacht war Amelies Kind zur Welt gekommen und hatte bereits fast zehn Kubikzentimeter der kostbaren Flüssigkeit produziert und würde in den nächsten Monaten täglich fast die gleiche Menge hervorbringen. Mit dem Größerwerden des Kindes nahm die Menge ab; er würde nur noch von Zeit zu Zeit etwas entnehmen können. Wenn es erwachsen würde, könnte er ihm jährlich nur noch wenige Tropfen abgewinnen, schließlich gar nichts mehr. Bis dahin würde das Kind allerdings alt genug sein, um selbst Kinder zu gebären. Den Mädchen des Zirkels suchte er dann einen Gefährten; sie vermehrten sich, und so gäbe es wieder neue Babys, um die Krippen zu füllen, Babys, die von ihm nur zu einem Zweck aufgezogen würden.
Da zur Zeit aber nur wenige Kinder alt genug waren, um Babys für ihn zur Welt zu bringen, sah er sich einem akuten Problem gegenüber; denn während er Schwierigkeiten hatte, Babys zu finden, wuchs der Bedarf an der wertvollen
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