In den Klauen des Bösen
eigentlich überhaupt nichts gefühlt.
Sie tat immer nur, was man ihr sagte.
Und in manchen Nächten hatte sie den stillen Ruf gehört und war hinausgegangen ins tiefe Moor, wo sie dann mit den anderen Kindern im Zirkel gestanden hatte, um den Zeremonien zuzuschauen.
Den Hochzeiten beizuwohnen.
Die Einführung der Babys in den Zirkel mitzuerleben.
Und ihre Gabe zu geben.
Sie tastete unbewusst nach dem Zeichen auf ihrer Brust, nach der Narbe, die bezeugte, dass sie ihre Gabe gegeben hatte, dass in ihrer Kindheit die Nadeln häufig in ihren Körper eingedrungen waren.
Vor zwei Jahren hatte der Schwarze Mann sie dann für eine ganz besondere Zeremonie auserwählt.
In jener Nacht war sie ganz in Weiß eingekleidet worden, und als sie an den Altar gerufen wurde, hatte sie zunächst damit gerechnet, verheiratet zu werden.
Das war jedoch unmöglich, da sie noch nicht schwanger war, ja, der Schwarze Mann hatte für sie nicht einmal einen Jungen ausgesucht, mit dem sie zusammenleben sollte.
Doch sie war dem Ruf gefolgt, so wie alle Kinder dem Schwarzen Mann gehorchten, und war zum Altar geschritten, wo der Schwarze Mann nur mit ihr allein gesprochen hatte; unter seinen Worten, die sie tief berührten, war sie allmählich eingeschlafen, und als sie wieder aufwachte, hatte ihr Leben sich völlig verändert. Sie befand sich nicht mehr im Moor, sondern in diesem Haus, in dem sie sich seither ununterbrochen aufgehalten hatte. Aber sie hatte nicht mehr sprechen können.
Der Schwarze Mann hatte ihr erklärt, sie sei von allen Kindern das außergewöhnlichste, und deshalb habe er sie zur Pflege der Babys auserwählt. Lavinia hatte den Verlust ihrer Stimme akzeptiert, wie sie alles akzeptierte. Sie hatte nicht geweint; allerdings hatte sie, wie alle Kinder des Schwarzen Mannes, im Leben noch nie geweint.
Sie hatte rasch gemerkt, dass das Fehlen der Stimme gar nicht entscheidend war, weil nämlich niemand da war, mit dem sie sich hätte unterhalten können. Sie kümmerte sich nur um die Kinder und den Schwarzen Mann. Und das Haus war wundervoll.
Oben im Erdgeschoß gab es sechs Zimmer, herrliche Räume mit holzgetäfelten Wänden und raunen Tapeten. Ein Raum war mit endlosen Bücherregalen gefüllt, und wenn Lavinia auch nicht lesen konnte, so hielt sie sich in diesem Raum doch sehr gern auf, um die Bücher zu berühren und das Aroma der Ledereinbände zu riechen und darüber nachzudenken, was die Schrift in den Büchern wohl bedeuten könnte. Doch meistens weilte sie in den Kellerräumen, um die Babys zu pflegen.
Als das Wasser die richtige Temperatur erreicht hatte, stellte Lavinia ein Fläschchen mit der Lösung in den Topf und begab sich in den Kinderpflegeraum ohne Fenster, der weiß gestrichen war. In vier der zwölf Krippen lagen Babys; die übrigen waren leer.
Sie beugte sich über den kleinen Sohn von Quint und Tammy-Jo und kitzelte ihn unter dem Kinn. Er öffnete schläfrig die Augen und bewegte die Ärmchen, bis seine Finger das Röhrchen fassten, das von der Nadel in seiner Brust zu der Flasche führte, die an einem IV-Stab neben der Krippe hing. Lavinia löste die Finger behutsam vom Röhrchen und drückte ihm eine Rassel in die Hand. Er fasste sie ungeschickt und führte den Griff in den Mund. Lavinia lächelte - solange er nicht mit dem Röhrchen spielte und es abzureißen versuchte, brauchte sie ihn nicht zu fesseln.
Zwei andere Babys - sie waren inzwischen fast zwei Jahre hier und würden bald zurückmüssen ins Moor - schliefen tief, und als Lavinia sich über sie beugte, bedauerte sie doch, ohne Stimme zu sein: Sie hätte den Kindern liebend gern ein Wiegenlied gesungen. Statt dessen musste sie sich damit begnügen, das eine Kind zärtlich wieder in die Decke zu wickeln und dem anderen den Teddybär in die Arme zu legen. Das schlafende Kind rührte sich nur ganz leicht und schlang die Arme um das Stofftier, bevor es wieder ganz fest schlief.
Das Kind in der Krippe, das der Schwarze Mann in der vergangenen Nacht hergebracht hatte, besuchte Lavinia zuletzt. Vorsichtig löste sie das Röhrchen von der Nadel in der Brust, nahm das Baby hoch und trug es in die Küche.
Sie hielt das Fläschchen gegen die eigene Haut, um die Wärme zu überprüfen, setzte sich an den Küchentisch, nahm das Baby in den Arm und hielt ihm den Schnuller an den Mund. Das Baby versuchte den Schnuller zuerst wegzustoßen, doch Lavinia gab nicht nach, bis das Kind zu trinken begann. Lavinia wiegte es an der Brust und überlegte
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