In den Klauen des Bösen
»Kelly, hier ist Michael. Kannst du mich hören?«
Er horchte. Außer anderen rufenden Stimmen hörte er nichts - das ganze Moor schien ein Echoraum, in dem Kellys Name widerhallte.
Er wusste aber, dass sie die Rufer nur hörte, falls sie sich zufällig in unmittelbarer Nähe befand; denn das dicke Moos in den Bäumen dämpfte alle Laute sehr rasch. Nur ein paar hundert Meter entfernt würde sie keinen der rund zwanzig Männer, die die Wildnis nach ihr durchkämmten, mehr hören.
Die Insektenwolke, die auf Michaels Taschenlampenstrahl reagiert hatte, zog weiter, bis auf Mücken, die ihm um die Ohren sirrten und alle paar Sekunden auf ihm zu landen versuchten. Er schlug sie in die Flucht. Als Michael die Lampe endlich wieder anknipste, fiel der Strahl auf ein Opossum, das wenige Meter entfernt in einem Baum saß. Das vom Licht wie hypnotisierte Tier starrte Michael an.
»Alles in Ordnung«, sagte Michael zu dem erschrockenen Tier, das sich, wie als Antwort auf seinen Zuspruch, leise rührte; und plötzlich fiel von einem überhängenden Ast eine grüne Masse herab - eine riesige Baumschlange ringelte sich im Nu um den Körper des Opossums, das überrascht aufquietschte und dem Druck der Schlange zu entkommen suchte, die das kleine Beuteltier daraufhin nur fester einschnürte und ihm die Lungen zerquetschte. Es dauerte nur wenige Minuten, bis das Opossum im Griff der Schlange den letzten Atemzug tat.
Die Riesenschlange setzte sich in Bewegung, ohne das Opossum loszulassen. Ihre Kiefer öffneten sich weit, ganz weit, als sie das tote Geschöpf zu verschlingen begann. Michael sah fasziniert zu, als die Kiefer der Riesenschlange sich für den unverhältnismäßig großen Körper der Beute ganz weit öffneten. Michael hatte so etwas schon einmal beobachten können - es würde bis zu einer Stunde dauern, bis der lange Schwanz des Opossums im Schlund der Schlange verschwunden wäre und das gesättigte Reptil sich zum Verdauen in die Gabelung eines Baums verkröche.
Als die Insektenplage ihm allzu lästig wurde, schaltete er die Taschenlampe erneut ab und den Motor wieder ein. Er legte den Vorwärtsgang ein, gab Gas und fuhr weiter.
Eine Zeitlang fuhr er ohne Licht. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Durch Lücken im Laubwerk sah er ab und zu andere Lichter aufblinken; bei seiner Fahrt von einem Wasserarm zum nächsten, von Insel zu Insel, befand er sich in einem geradezu surrealistischen Netzmuster von Booten.
Er wusste, wo er sich befand. Er war mit dem Moor so vertraut, dass er mit jeder Biegung ein Wahrzeichen erkannte.
Aber von Kelly war nirgends etwas zu sehen.
Da stellte er den Motor ein weiteres Mal ab und dachte während des Dahingleitens lange nach.
Er wusste, wo sie ins Moor gegangen war. Er kannte die Insel, die sie über die Fußgängerbrücke betreten hatte; die hatte er Meter für Meter erforscht, ganz zu Beginn seiner einsamen Wanderungen durch die Wildnis. Sie bildete einen langen, schmalen Landstreifen, der sich kaum zwanzig Zentimeter aus dem Wasser hob. Festen Boden gab es dort nur im allerersten Teil; je weiter man ging, desto sumpfiger wurde es; am Ende watete man durchs Wasser.
In der Dunkelheit würde Kelly nie zurückfinden können. Es wäre schon bei Tageslicht keine leichte Sache - und Kelly kannte die Insel nicht.
Sie mußte also, überlegte Michael, immer weitergelaufen und, da sie nicht zurückgekehrt war, durch Zufall auf die einzige andere Stelle gestoßen sein, wo man die Insel verlassen konnte: ein enger, seichter Bayou, wo nur die flachsten Boote fahren konnten; am anderen Ufer lag eine größere Insel.
Auf der Insel befand sich Kelly jetzt möglicherweise.
Michael schaute sich um. Die übrigen Boote waren vorübergehend außer Sichtweite. Er war allein. Aber er wusste wenigstens, wohin er sich wenden musste.
Er ließ den Motor wieder an und bewegte sich vorsichtig durch das Labyrinth der Wasserarme. Er war einigermaßen zuversichtlich, dass er Kellys Weg zu rekonstruieren vermochte: So viele Wege, auf denen sie sich hätte fortbewegen können, gab es im Moor nämlich gar nicht.
Vorausgesetzt, sie würde durch einen falschen Tritt nicht auf eine der vielen Treibsandstellen geraten.
An die Möglichkeit wollte Michael nicht denken.
»Hilfe!« rief Kelly. »Bitte helft mir!« Obwohl sie aus Leibeskräften schrie, klang es selbst für sie erbärmlich schwach; in der schwülen Luft schienen die Laute auf den Lippen zu ersterben.
Sie war erschöpft, wagte aber
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