In den Ruinen von Paris
»Was sind Sie, Barler?« fragte sie schließlich. »Ein Fatalist oder Zyniker?« »Vielleicht von beidem etwas.« »Wird man so, wenn man vierzig Jahre lang auf der Flucht lebt?« fragte Charity ernst. »Auf der Flucht?« Barler runzelte verblüfft die Stirn. Dann lächelte er wieder und schüttelte den Kopf. »Sie täuschen sich, Captain Laird. Wir sind keine Flüchtlinge oder Gefangenen.« »Aber Sie sind ... « »Später«, unterbrach sie Barler. »Lassen Sie uns später darüber reden, Captain Laird. Ich bitte Sie darum.« Charity respektierte seinen Wunsch. Für den Rest der Fahrt, die tatsächlich noch eine gute halbe Stunde dauerte, schwieg sie. Nach einer halben Ewigkeit wurde der Zug langsamer und kam schließlich in einer weiteren Metro-Station zum Stehen. Anders als die, aus der sie abgefahren waren, war diese unterirdische Halle nicht erleuchtet. Aus den Fenstern des Wagens fiel ein wenig Licht auf den Bahnsteig. Barler stand auf, ging in den hinteren Teil des Wagens und kam mit einem großen Handscheinwerfer und zwei Pechfackeln zurück. Er hängte sich den Scheinwerfer an den Gürtel, reichte Charity eine der Fackeln und trat wortlos auf den Bahnsteig hinaus. Dann entzündete er beide Fackeln. Das rote Licht schuf einen Kreis unsicherer Helligkeit rings um sie herum, aber es reichte längst nicht aus, die gewaltige, mit geborstenen, weißen Fliesen gekachelte Halle zu erhellen. Außerdem stanken die Fackeln erbärmlich, und von ihrem pechgetränkten Ende fielen immer wieder kleine Funken auf Charitys Hand herab. Sie deutete auf den Scheinwerfer an Barlers Gürtel. »Funktioniert das Ding nicht?« »Doch.« Barler nickte. »Aber wir benutzen sie nur, wenn es gar nicht anders geht. Die Batterien werden allmählich knapp, und es werden schon lange keine neuen mehr produziert.« Charity entschuldigte sich in Gedanken bei Barler für diese dumme Frage. Das wenige, das sie bisher von der Freien Zone gesehen hatte - Jeans Pibike, diese Metro, die aus unerfindlichen Gründen noch funktionierte —, begann sie bereits vergessen zu lassen, wo sie sich befand. Die Welt hatte sich grundlegend verändert. Es gab nicht einmal mehr so selbstverständliche Dinge wie eine Batterie, die man achtlos wegwarf und gegen eine neue austauschte, wenn sie verbraucht war. Die Menschen des 21. Jahrhunderts lebten ausschließlich von den Resten, die ihnen die untergegangene Zivilisation übriggelassen hatte. Sie durchquerten die Halle und benutzten die kaputte Rolltreppe, um nach oben zu gelangen. An ihrem Ende befand sich ein Netz aus breiten dunklen Flächen und schmalen Lichtstreifen, und als sie näher kamen, erkannte Charity, daß der Zugang mit einer provisorischen Bretterwand verschlossen war. Sie wollte Barler dabei helfen, die kleine Tür darin zu öffnen, aber er forderte sie mit einer Geste auf, seine Fackel zu halten, während er sich mit den quietschenden Scharnieren abmühte. Charity sah sich schaudernd um. Das Licht der beiden Fackeln reichte nicht besonders weit, aber was sie sah, ließ in ihr nicht den Wunsch aufkommen, mehr zu sehen. Am Rande des flackernden roten Kreises erkannte sie einen schattenhaften Körper, der ausgestreckt auf den Stufen der gegenüberliegenden Rolltreppe lag. Draußen herrschte noch immer heller Tag. Nach dem Halbdunkel unter der Erde kam Charity selbst das milde grüne Licht dieser falschen Sonne fast unangenehm intensiv vor. Sie blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und brauchte einen Moment, um sich wieder an die veränderte Helligkeit zu gewöhnen. Barler löschte seine Fackel, legte sie aber nicht aus der Hand, und Charity folgte seinem Beispiel. Sie entfernten sich in nördlicher Richtung vom U-Bahn-Schacht und bogen an der ersten Kreuzung ab. Charity sah sich aufmerksam um, während sie Barler folgte. Die Stadt war auch hier ein Opfer des Dschungels geworden; und doch unterschied sie sich völlig von dem, was sie auf der anderen Seite des Flusses gesehen hatte. Die Pflanzen wuchsen längst nicht so ungezügelt wie dort. Das Unterholz war weniger undurchdringlich, und es war sehr still. Es dauerte einen Moment, bis Charity den Grund dieser Stille begriff: Das Gekreische der Tiere, das sie auf der anderen Seite des Flusses so erschreckt hatte, fehlte hier vollkommen. Sehr weit entfernt hörte sie lediglich das wehklagende Schreien eines Vogels, und einmal glaubte sie einen dunklen Schatten durch das Geäst brechen zu sehen. Die Menschen schienen
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